Interview | Berliner Jüdin Elvira Grözinger - "Ich möchte nicht weg. Das hier ist mein Land"

Do 09.11.23 | 06:33 Uhr
Zwei Frauen stellen am 09.10.2019 bei einer Solidaritätskundgebung anlässlich des Attentats in Halle (Saale) an der Neuen Synagoge Berlin Kerzen auf eine Türschwelle. (Quelle: Picture Alliance/Christoph Soeder)
Bild: Picture Alliance/Christoph Soeder

Als Tochter von Shoa-Überlebenden in Polen und Israel aufgewachsen, lebt Elvira Grözinger seit 56 Jahren in Deutschland. Wegen der Situation in Israel und hier in Berlin ist sie in großer Sorge - und hofft auf Grundgesetz und Demokratie.

rbb|24: Guten Tag, Frau Grözinger. Wie sicher und wie wohl fühlen Sie sich persönlich gerade in Deutschland und in Berlin?

Elvira Grözinger: Gerade jetzt? Wie die meisten Juden in diesem Land fühle ich mich derzeit nicht gerade auf der Höhe. Auch mein Sicherheitsgefühl ist nicht optimal. Vor allem aber bin ich in großer Sorge über das, was gerade in Israel geschieht. Aber ich vertraue sehr auf die deutsche Demokratie, auf die Gesetze und auf den Verstand der Menschen. Und nach der Rede des Vizebundeskanzlers Robert Habeck [tagesschau.de] glaube ich auch, dass die Politik weiß, wie ernst die Lage ist.

Zur Person

Berliner Jüdin - Elvira Grözinger

Elvira Grözinger (76) wurde 1947 als Kind Shoa-Überlebender in Polen geboren. 1957 wanderte ihre Familie nach Israel aus. Grözinger ist Literaturwissenschaftlerin, Publizistin und Übersetzerin. Sie lebt seit 1967 in Deutschland, heute in Berlin.

Inwiefern hat sich Ihre Situation, Ihr persönliches Wohl- und Sicherheitsbefinden seit dem 7. Oktober verändert?

Ich bin seit dem 9. November 1967 in Deutschland. Ich kam kurz nach dem Sechstagekrieg nach Heidelberg zum Studium. Damals hat die NPD bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg knapp zehn Prozent der Stimmen bekommen. Und an der Universität Heidelberg gab es bereits Aktivitäten der radikalen Palästinenserorganisation. Ich war damals also schon im kalten Wasser gelandet. Seitdem war mir klar, dass die ganz sicheren Zeiten nicht kommen würden.

Natürlich war es hier in Deutschland zeitweise besser, dann gab es wieder schlechtere Zeiten. Es gab immer wieder Krisen und Reaktionen auf das, was in Israel geschieht. Und hierzulande gab es immer verschiedene Gruppen, die Juden nicht mögen. Antisemitismus ist ja nicht neu. Es gab immer Wellen. Ich bin daran leider gewöhnt.

Aber nach dem 7. Oktober bin ich doch etwas entsetzt. Zunächst einmal gab es eine Welle der Sympathie, die fast alle erfasst hat. Doch schon wenige Tage später kam es zur Täter-Opfer-Umkehr. Da hieß es dann, der Krieg käme "nicht von ungefähr" oder "die Hamas sei schlimm, aber Israel…"

Das hat mich empört und zutiefst traurig gemacht. Denn ich kämpfe in diesem Land seit 56 Jahren für Demokratie und für die Gleichberechtigung von Frauen, Männern, Schwulen, Lesben und Transmenschen. Jeder sollte nach seiner Façon selig werden und ruhig leben, wie es unser preußischer König, der Große Fritz, gesagt hat. Wenn das hier in Deutschland nicht mehr möglich ist, ist die Zeit gekommen, entweder aktiv zu werden oder aus diesem Land zu gehen.

Deutschland zu verlassen wäre für Sie also durchaus eine Option?

Ich möchte das nicht und es käme nur infrage, wenn meine Sicherheit nicht mehr gewährleistet ist. Und ich hoffe sehr, nicht aus diesem Land gehen zu müssen. Ich habe fast zwei Drittel meines Lebens damit verbracht, für dieses Land zu kämpfen. Und meine Überzeugung ist, dass wir das hier schaffen, wenn wir nur wollen. Dass wir verhindern können, dass Juden wieder dieses Land verlassen müssen.

Ich würde nur gehen, wenn die Demokratie, das Grundgesetz und der Rechtsstaat weder die Juden noch andere Menschen, die gegen Terror und Barbarei sind, schützen können.

Und in der jetzigen Situation sind ja nicht die Juden allein gemeint. Es geht auch um Christen und Buddhisten. Wenn auf Deutschlands Straßen nach dem Kalifat gerufen wird, wie vergangene Woche in Essen, dann geht es um die Herrschaft des Islams über alle anderen Religionen. In der Geschichte war es so, dass derjenige, der sich dem Kalifat nicht beugte oder konvertierte, gehen musste oder den Kopf verlor. Ich hoffe doch sehr, dass Deutschland und ganz Europa mit den Muslimen die hier sind – und die vielfach ja hierher geflüchtet sind, weil sie in ihrer Heimat gefährdet waren – das nicht zulässt. Es gibt glücklicherweise genügend Muslime hier, die keine Radikalen sind. Nicht wenige Muslime, die ich kenne, denken genauso wie ich.

Leider begreifen die Islamverbände hierzulande nicht, dass es ihre Aufgabe ist, sich vom Terror zu distanzieren. Das passiert zu wenig

Elvira Grözinger

Wohin würden Sie gehen wollen?

Ich weiß es nicht. Dafür habe ich noch keine Pläne. Denn ich hoffe und denke, dass das nicht eintreten wird. Wenn ich gehen müsste, würde ich mich dann umschauen, wo man mich in meinem Alter noch will. Ich bin 76 Jahre alt. Zwar bin ich noch arbeitsfähig, doch ich glaube nicht, dass es Länder gibt, die wild darauf sind, mich dazuhaben. Aber ich möchte nicht weg. Das hier ist mein Land. Ich habe dafür sehr viel getan. Ich liebe die Kultur und vertraue auf die Demokratie. Ich glaube nicht, dass ich mich irgendwo anders zu Hause fühlen könnte.

Sind denn in Ihren Augen im Moment radikale Muslime die große Gefahr oder ist es auch das Erstarken der Rechten?

Der Rechtsruck war schon immer da. Oder vielmehr immer wieder. Jetzt ist die AfD stark. Aber das ist, denke ich, auch darauf zurückzuführen, dass sich viele Menschen hier nicht mehr sicher fühlen.

Leider begreifen die Islamverbände hierzulande nicht, dass es ihre Aufgabe ist, sich vom Terror zu distanzieren. Das passiert zu wenig. Dadurch haben die Menschen in Deutschland, die wenig vom Islam wissen, nicht das Gefühl, dass die Vertreter des Islam sich hinter Grundgesetz und Demokratie und gegen den Terror stellen. Wenn die Islamverbände das klarstellen, sind sie Partner im Kampf gegen die Gefahr.

Doch im Augenblick ist das nicht der Fall und deshalb fürchte ich, dass muslimischer Extremismus und Rechtsextremismus Hand in Hand unsere Demokratie gefährden. Da geht es ganz wenig um uns Juden selbst – wir sind nur eine kleine Gruppe.

Trotzdem klingt das nach einer Belastungssituation. Wie sorgen Sie für sich in dieser Zeit?

Ich habe Gott sei Dank sehr viele Freunde, die auf meiner Seite stehen und für mich da sind. Und ich umgebe mich nur mit Menschen, die meine Werte teilen. Mit anderen möchte ich meine Zeit nicht vergeuden.

Ich bewundere schon immer, was und wie schön man alles im Deutschen ausdrücken kann. Das tröstet mich. Weil ich weiß, es gibt nicht nur Dummheit, Hass und Barbarei hier.

Elvira Grözinger

Ansonsten tue ich, was ich immer tat, wenn mich etwas bedrückt: ich höre viel Barock-Musik und überhaupt Musik und ich lese deutsche Gedichte. Ich bewundere schon immer, was und wie schön man alles im Deutschen ausdrücken kann. Das tröstet mich. Weil ich weiß, es gibt nicht nur Dummheit, Hass und Barbarei hier. Außerdem tröstet es mich zu wissen, dass wir die gleichen Werte teilen. Hier gibt es für mich Gleichgesinnte.

Ich gehe auch gerne in die Berge oder ans Meer. Das beruhigt mich auch. Aber nur sehr kurz. Insgesamt sorge ich mich enorm um die Menschen, besonders die Kinder, die noch in den Händen der Hamas sind. Es ist für mich undenkbar, dass jemand Babys und alte Menschen – die schon den Horror der Shoa und des Holocausts erlebt haben – verschleppt.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24

Sendung: rbb24 Abendschau, 09.11.2023, 19:30 Uhr

Nächster Artikel