Analyse | Herthas Niederlage bei Dardai-Rückkehr - Noch schwach?
Auch beim Comeback von Trainer Pal Dardai zeigt Hertha BSC einmal mehr ein über weite Strecken erschreckendes Gesicht. Hoffnung auf Besserung besteht kaum. Es sei denn, Dardai schafft es in die Köpfe der Spieler. Von Ilja Behnisch
Sollte Pal Dardai irgendwann tatsächlich einmal genug haben von seiner Hertha und weder dem Nachwuchs noch der Profimannschaft dienen und auch nicht im Limbo dazwischen verweilen, er hätte gute Karriere-Aussichten als YouTuber. Real-Talk heißt ein Format-Evergreen auf der Video-Plattform. Das grobe Konzept dahinter: ungeschönt vorgetragene Ansichten auf mehr oder minder große Probleme der Menschheit.
Hertha BSC zählt eher zu den größeren Problemen, daran dürfte spätestens nach dem 2:4 (0:2) gegen Werder Bremen wenig Zweifel bestehen. Doch während man in den letzten Minuten der Partie, die seltsam vor sich hin plätscherten, statt den großen Schlussakt eines Berliner Aufbegehrens abzubilden, große Fragen wälzte wie zum Beispiel, woran es gelegen hat - da trat Dardai auch schon vor das Mikrofon des Senders Sky und machte Real-Talk. "Nach dem Spiel muss man nicht labern. Ich glaube, es ist viel Kopfsache", sagte der Ungar. Die mentalen Probleme bei Hertha seien größer, als er sie eingeschätzt habe und wenn man ehrlich sei, "sind wir mit einem Bein..." Da unterbrach sich Dardai schließlich selbst, zu viel Real-Talk ist nicht gut für die Gesundheit.
Hertha ist aktuell nicht wettbewerbsfähig
Es war dennoch erstaunlich, wie gefasst Dardai bei seinem Vortrag wirkte. Eher wie ein Familienvater, der auf dem Heimweg vom Wochenendausflug die falsche Autobahn-Ausfahrt genommen hat und nun darüber informieren muss, dass es nun halt vier Minuten länger dauern wird. Weniger wie einer, der befürchten muss, dass sich seine Hertha nach dieser Saison nicht in der ersten, sondern in der zweiten Bundesliga wiederfindet.
Ein Verbleib im Oberhaus scheint nach dieser Darbietung gegen Werder Bremen jedenfalls mehr als fragwürdig. Die Hanseaten hätten dieses Spiel schließlich deutlich höher gewinnen können, sogar müssen. Hertha zeigte sich in den elementaren Dingen des Fußballs nicht wettbewerbsfähig.
Dabei war Dardai vor dem Spiel noch so optimistisch, sagte: "Wenn wir das, was wir uns ausgedacht haben, gut machen, gewinnen wir." Ausgedacht hatte sich der Ungar bei seiner Rückkehr auf den Trainerposten der Hertha dann ein klassisches 4-2-3-1, mit Peter Pekarik als Rechtsverteidiger. Womit sich der Ursprung der Überlegungen vermutlich ins Holozän zurückverfolgen ließe.
Wer bin ich? Was mache ich hier? Und: Hä?
Die Idee dahinter jedenfalls lag auf der Hand: Kompakt stehen und ohne allzu großes Risiko zu gehen, auf den richtigen Umschaltmoment warten. Gefahr sollte vor allem über die schnellen Außenspieler Derry Scherhant und Dodi Lukebakio entfacht werden. Im Sturmzentrum sollte der wuchtige Jessic Ngankam Räume schaffen oder am besten selbst verwerten. Hinter ihm postierte Dardai mit Marco Richter in Abwesenheit des dafür prädestinierten aber verletzten Steven Jovetic einen fussballerischen Freigeist, gut für die besonderen Momente.
Allein, Marco Richter gelangen nicht einmal die einfachsten Momente. Immer wieder versprang ihm der Ball bereits bei der Annahme, hatte er ihn doch einmal unter Kontrolle gebracht, meinte man Rauchschwaden über seinem Kopf aufsteigen zu sehen wegen der Frage, was denn nun am besten zu tun sei. So blieb das offensive Spiel der Berliner durchsichtig wie Glas und ebenso leicht zu durchbrechen. Weil überhaupt ausnehmend alle Hertha-Spieler nach Übereignung des Balles von existenziellen Einwürfen übermannt schienen: Wer bin ich? Was mache ich hier? Und: Hä?
Die schlechte Nachricht: Sie haben sich mindestens bemüht
Herthas Fans mögen diese Fragen im Laufe der Partie ebenfalls anheim gefallen sein. Dabei hatten sie vor den Anpfiff ein gehöriges Ausrufezeichen in den Nachmittag gestellt. Ein riesiges Banner überspannte die Breite der Ostkurve im ausverkauften Olympiastadion. "Zerreißt euch endlich für Hertha BSC!", war darauf zu lesen. Nun mag man darüber streiten, wann und wie genau sich ein Profi-Fußballer tatsächlich für seinen Verein zerrissen hat. Die schlechte Nachricht muss aber doch lauten: Sie haben sich mindestens bemüht.
Selbst Dodi Lukebakio, der in der Vergangenheit auch schon mit dem Maximum an Lustlosigkeit aufwartete, lief und versuchte alles, was der liebe Fußballgott ihm in die Wiege gelegt hatte. Was allerhand ist, weshalb Hertha wenn, dann über den belgischen Nationalspieler für Gefahr sorgte. Immer wieder nahm er es mit mehreren Bremern auf. So er denn überhaupt den Ball bekam, schließlich hatte Werder Lukebakio offenbar als größte Gefahrenquelle ausgemacht und massiv beschattet. Auch deshalb zog es den 25-Jährigen mal in die Mitte, mal bis in die eigene Hälfte und mithin in ein Gebiet, das er lange Zeit seiner Karriere wohl nur vom Hören-Sagen kannte.
Dardai muss nicht an die Taktiktafel, sondern in die Köpfe der Spieler
Hertha lief mehr als der Gegner (115 zu 113 Kilometer), hatte eine bessere Passquote (78 zu 71 Prozent), mehr Ballbesitz (54 zu 46 Prozent) und eine bessere Zweikampfquote (54 zu 46 Prozent). Und war doch komplett chancenlos. Weil in jedem Moment aufkommender Gefahr jeder einzelne Spieler auf sich allein gestellt und damit heillos überfordert schien.
Weshalb zu konstatieren ist: Herthas Trainer muss nicht an die Taktiktafel, sondern in die Köpfe der Spieler. So schlecht, wie sich Herthas Profis in den entscheidenden Situationen zuletzt zeigten, können sie schließlich gar nicht sein. Immerhin: Noch sind es nur drei Punkte bis auf den Relegationsplatz. Mit Stuttgart und Bochum warten zudem noch direkte Duelle auf die Hertha. Und auf Pal Dardai: jede Menge Real-Talk.
Sendung: rbb24, 22.04.2023, 21:45 Uhr