Hip-Hop-Historie von Hertha BSC - Alte Dame, junge Baller
Trotz anhaltender sportlicher Misere ist Hertha BSC beliebter denn je. Was eng damit zusammenhängt, dass der Verein tief in der Hip-Hop-Szene verwurzelt ist. Gespräche mit Berliner Originalen geben Aufschluss. Von Anton Fahl
Das kulturelle Erbe der "Alten Dame" ist in sicheren Händen. "Erst Frank Zander, dann Die Atzen, jetzt Ski Aggu", sagt der Musiker Frauenarzt im Gespräch mit dem rbb.
"Die Atzen", das sind zwei Berliner Originale aus Tempelhof: Manny Marc und Frauenarzt. Pioniere des "Techno-Rap", wie sie das Genre, das sie seit knapp zwei Jahrzehnten prägen, selbst bezeichnen. Seit mindestens genauso vielen Dekaden sind sie mit Hertha BSC verbunden. Als Fans – und als Inspirationsquelle für das Liedgut der Ostkurve.
Als Hertha BSC am 14. März 2009 auf Bayer 04 Leverkusen trifft und durch ein Tor von Andriy Voronin mit 1:0 gewinnt, hallt es durch das Olympiastadion: "Hey, das geht ab, wir holen die Meisterschaft!" – angelehnt an einen Party-Hit der Atzen. Zu dieser Zeit, lange bevor die ganz großen Geldkoffer in Berlin landen, wird Hertha von Lucien Favre trainiert und ist mit Spielern wie Jaroslav Drobný, Arne Friedrich, Pál Dárdai, Raffael und Marko Pantelić Spitzenreiter der 1. Fußball-Bundesliga.
Atzen in der Ostkurve: "Hat sich wie ein Ritterschlag angefühlt"
Die Ostkurve freut sich an jenem sonnigen Samstag über bekannte Besucher: Die Atzen sind zu Gast. "Wir haben gesagt: Wenn wir das machen, dann machen wir das nicht unten im Stadion, sondern mit den Jungs, die das umgedichtet haben, in der Ostkurve", erinnert sich Frauenarzt. "Das war einer der krassesten Momente überhaupt, die wir erlebt haben. Das hat sich wie ein Ritterschlag angefühlt und das hätte ich mir, gerade als Ur-Berliner, nie vorstellen können", ergänzt Manny Marc. "Das ist mit nichts zu vergleichen, mit keinem Auftritt und keiner Award-Nominierung."
Seitdem sind mehr als 15 Jahre vergangen, die Herthaner drei Mal aus der Bundesliga ab- und nur zwei Mal aufgestiegen, aktuell also ein mittelmäßiger Zweitligist – und dennoch scheint Hertha BSC, das "Berliner Sorgenkind", beliebter und cooler denn je zu sein. Die Mitglieder- und Zuschauerzahlen steigen munter und rekordverdächtig weiter, die Trikot- und Merchandise-Nachfrage ist höher als je zuvor. Der Verein setzt vermehrt auf Spieler aus der eigenen Akademie und strahlt wieder eine Bodenständigkeit aus, die bereits verloren schien. Ganz im Sinne des "Berliner Wegs", den Hertha-Präsident Kay Bernstein ausrief – vor seinem plötzlichen Tod und zusammen mit der sportlichen Führung der "Alten Dame".
Hauptstadtrocker als aussterbende Art - die Jugend hört Hip-Hop
Die positive Entwicklung der Außenwahrnehmung des Hauptstadtklubs ist das Produkt vieler Faktoren – und eines dieser Elemente, wenn auch das vielleicht am schwersten messbare, ist seine Verwurzelung in der Berliner Hip-Hop-Szene.
"Der Verein hat verstanden, dass er wieder die Sprache der Kurve sprechen und mit diesen Leuten kommunizieren muss", meint Niko Backspin, der seit über 20 Jahren als Musikjournalist und seit rund einem Jahr als Verantwortlicher einer Marketing-Agentur in Hamburg tätig ist, die unter anderem mit verschiedenen Fußballvereinen zusammenarbeitet. "Die Generation, die jetzt maßgeblich die Fußballkultur in den Kurven und Vereinen prägt, ist mit Hip-Hop groß geworden. Das sind keine Rocker. Die haben alle Deutschrap oder US-Rap gehört – und das hat sie eben auch zu dem gemacht, was sie heute sind. Diese Coolness strömt vermehrt in die Stadien, was dazu führt, dass auch ein Verein wie Hertha BSC wieder eine Coolness erfährt, die er über viele Jahre nicht hatte."
Ein Punkt, den der Rapper und DJ Harris unterstreicht. "Als Herthaner kann ich sagen, dass Hertha eigentlich immer uncool war. Du warst nicht cool, wenn du gesagt hast, du bist Hertha-Fan. Selbst in Zeiten, in denen dieser Vorstadtverein [namentlich der 1. FC Union; Anm.d.Red.] noch nicht im Kommen war", meint der 47-jährige Berliner.
In den frühen Nullerjahren firmiert Harris mit Sido als "Deine Lieblings Rapper". Das Duo releast 2005 ein Album, das konsequenterweise den Titel "Dein Lieblings Album" trägt - und das unter dem, ja doch, legendären Label "Aggro Berlin" erscheint. Ganz abgesehen davon schreibt Harris im Laufe seiner künstlerischen Karriere mehrere Songs über Hertha, einen davon unter anderem mit Frank Zander ("Hertha lebt!", 2020).
Im Jahr 2011 gründet er, gemeinsam mit seinem langjährigen Freund Babu von der Ropp, den Fanclub "United Colors of Hertha (UCOH)", der sich für Toleranz, gegen Rassismus und Diskriminierung jeglicher Art einsetzt. Auch als Reaktion auf Anfeindungen, die sich im Rahmen von Herthas Heimspielen gegen Harris selbst richteten. "Ich habe es Ende der Neunziger so wahrgenommen, dass Hertha gerne mal als Nazi-Verein abgestempelt wurde. Außerdem ist Hertha einer der ganz wenigen europäischen Hauptstadtvereine, die immer mittelmäßig waren – das ist der nächste uncoole Faktor."
Hertha BSC besinnt sich auf seine Werte
Doch inzwischen seien die Leute wieder stolz darauf, Hertha-Fans zu sein, beobachtet Niko Backspin. Und das, obwohl nach wie vor eine Diskrepanz zwischen ausbleibendem sportlichem Erfolg und zunehmender Popularität klafft. "Es ist scheißegal, in welcher Liga du spielst. Die Mischung aus sportlichem Misserfolg, Zuschauer-Rekorden, ein paar coolen Leuten, die wieder mit Stolz das Trikot tragen, und einem Gesamtgefühl von 'Ey, das ist immer noch meine Stadt' sorgt dafür, dass dieser Verein wieder eine Dynamik bekommt. Das ist das Fundament, von dem aus Hertha hoffentlich wieder aufsteigt – wahrscheinlich nicht in diesem, vielleicht aber im nächsten oder in drei bis fünf Jahren."
Dafür seien "die DNA und Werte des Vereins" von entscheidender Bedeutung. "Die großen Vereine – egal ob Köln, HSV oder Hertha – haben gerade ein schönes Momentum", findet Niko Backspin. "In einer Fußballwelt, in der wir wissen, dass Hertha mittelfristig nichts mit Meisterschaft oder Champions League zu tun haben wird, scheint ein Konsolidierungskurs stattzufinden, der diesem Verein die Möglichkeit gibt, sich wieder auf seinen Wertekompass zu besinnen. Gerade in einer Welt, in der individuelle Spieler größer werden können als der Klub, musst du dich wieder auf den Klub besinnen."
Hertha-Trikots am Späti und auf dem Splash-Festival
Und ganz offensichtlich besinnen sich auch viele der aktuell prägenden Berliner Musikerinnen und Musiker auf ihren Verein: Die "Alte Dame". So haben unter anderem Ski Aggu, Symba, Pashanim, RapK, BHZ, Sampagne oder Paula Hartmann in der jüngeren Vergangenheit auf die oder andere Art ihre Vorliebe und Sympathie für Hertha BSC zum Ausdruck gebracht.
Die Liste der Shoutouts und Referenzen ist lang. Nach wie vor, knapp 20 Jahre seit dem Cameo der beiden damaligen Hertha-Spieler "Zecke" Neuendorf und Malik Fathi in Bushidos Musikvideo zu "Sonnenbank Flavour" (2006). Die Anzeichen verdichten sich: Berlin ist Hip-Hop, Hertha ist Berlin. Alte Dame, junge Baller. Luvre47, einst mit den Ultras für Hertha BSC in der Republik unterwegs, tourt nun im blau-weißen Trikot durch das Land und zeigt dem Verein in seinen Lyrics besonders viel Liebe. "Wenn er nicht Rapper geworden wäre, würde er weiter in der Kurve stehen", meint Hip-Hop-Fachmann Niko Backspin.
Im Sommer 2018 posieren Luciano und Harris mit Hertha-Merch am Späti, fünf Jahre später präsentiert $oho Bani auf dem Splash-Festival das neue Heimtrikot und wird kurz darauf auch ganz offiziell als Markenbotschafter vorgestellt. Im Januar 2024, unmittelbar nach Bernsteins Tod, widmet Deoz dem Präsidenten einen eigenen Song.
Auch Kiezkosmetik ist Hip-Hop
"Es gab ja auch schon vor 15 Jahren Berliner Rapper wie Silla, Frauenarzt oder Harris, die Songs über Hertha gemacht haben. Sie waren Fans in einer Zeit, in der es uncool war, Hertha-Fan zu sein. Die neue Generation gibt Hertha auf einmal eine gewisse Coolness", sagt Niko Backspin.
Harris nimmt eine ähnliche Entwicklung wahr. "Die Jugendlichen hören vor allem Hip-Hop. Wenn man auf den Bolzplatz geht, läuft da eher kein Westbam oder Sven Väth, sondern viel Deutschrap", so der Musiker. "Es gibt zum Glück immer mehr Local Heroes, deren Musik unterstützt wird. Wir hatten früher ja noch das Problem, dass wir gar nicht richtig verstanden haben, was die Amis uns in ihren Texten erzählen wollten."
Auch jenseits der Stadien und Streamingportale nimmt die Präsenz des Berliner Vereins immer weiter zu. Straßenlaternen und Tempo-30-Schilder werden mit Aufklebern übersät, blau-weiße Graffiti und Malereien verzieren Autobahnzufahrten und Stromkästen. Völlig richtig, diese Form der Kiezkosmetik ist nicht immer im Sinne der Ordnungshüter. Doch auch das ist Hip-Hop.
"Es geht um die Attitüde, die genauso in der Art und Weise, wie Fans die Städte mit Stickern versehen, drinsteckt", meint Niko Backspin. "In Hamburg haben wir herrliche Spielchen, gerade in den Grenzgebieten zwischen den beiden Fanlagern [des Hamburger SV und FC St. Pauli; Anm.d.Red.], wo gefühlt alle zwei Tage die Farben der Stromkästen wechseln", so der Musikjournalist und Fußballfan weiter. "Außerdem sieht man, wenn man mit dem Auto in Städte wie Berlin oder Rostock fährt, wie Graffiti die Zufahrten dominieren. Daran sieht man, dass die Fankultur mehr Hip-Hop geworden ist, als das noch vor 20 Jahren der Fall war."
Nichtsdestotrotz sind die sportlichen Kräfteverhältnisse – in dieser Hinsicht ist die Vergleichbarkeit von Berlin und Hamburg geradezu frappierend – für den Moment klar verteilt. Nur Form und Phrasenschwein zuliebe sei allerdings der Nachsatz formuliert: Fußball ist ein schnelllebiges Geschäft.
Jedenfalls bilanziert Niko Backspin: "Hertha ist sportlich am Boden. Rein sportlich ist inzwischen natürlich Union die Nummer eins der Stadt. Der andere Punkt ist aber, und der greift: Kulturell ist Hertha die Nummer eins. Die Verwurzelung des Vereins in der Stadt hat eine ganz andere Basis." Diese Verbindung sei organisch und über mehrere Jahrzehnte hinweg gewachsen – völlig losgelöst von sportlichem Erfolg oder eben: Misserfolg.
Harris über neue Union-Fans: "Die sind rumgelaufen wie 'ne Pommes rot-weiß"
Ein Umstand, den Harris, frei nach Berliner Schnauze, folgendermaßen zusammenfasst: "Es ist allgemein Teil der Berliner Mentalität, alles, was offensichtlich kommerziell erfolgreich ist, scheiße zu finden. Das spielt Hertha jetzt in die Karten. Viele Zugezogene sind zum Vorstadtverein gegangen, weil die auf einmal in der Champions League gespielt haben, und sind dann rumgelaufen wie 'ne Pommes rot-weiß", sagt der Rapper und Hertha-Fan.
"Das kriegen alle Fußballfans in Deutschland mit, nicht nur Herthaner, und das hilft unserem Ansehen", so Harris weiter. "Und dass dann noch junge Musiker zu dem Verein stehen und sagen 'Das ist unser Verein', ist etwas Krasses. Damit haben sie auf jeden Fall einen großen Anteil daran, dass die Kids dieser Stadt, die nun mal die Zukunft sind, wieder ins Boot geholt wurden und dass Hertha so cool ist wie nie zuvor."
Aus der Ostkurve klingt das anno 2024/25 so: "Denn du bist der Sport-Club uns'rer Stadt, egal ob Liga zwei oder Europacup. Wir sind dabei, wie du auch spielst, alles gewinnst oder ständig verlierst" – was wiederum auf der Melodie des Atzen-Songs "Atzin" basiert. Womit sich der vielzitierte Kreis wieder einmal schließt.
Frauenarzt beweist Textsicherheit und stimmt das Lied an, während sein Partner in Crime, Manny Marc, zu Protokoll gibt: "Das ist eine Ehre für uns. Wenn die Ostkurve unsere Songs umdichtet, kriegen wir Gänsehaut. Wir hoffen, dass Hertha schnell wieder in die erste Liga kommt. Es ist aber egal, was passiert: Unser Herz schlägt für Hertha und das wird immer so sein. Die Einzigen, die unsere Songs umdichten dürfen, sind die Fans von Hertha BSC."
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