rbb-Recherche - Krankenhaus Eisenhüttenstadt soll Müttern ohne medizinische Notwendigkeit Kaiserschnitte nahegelegt haben
In den vergangenen Jahren sind überdurchschnittlich hohe Kaiserschnitt-Raten in Eisenhüttenstadt aufgefallen. Frauen berichten, dass sie gegen ihren Willen dazu gedrängt worden seien. Das Krankenhaus will die Vorwürfe aufklären. Von Martin Krauß
Im Städtischen Krankenhaus Eisenhüttenstadt (Oder-Spree) soll in den vergangenen Jahren Müttern gegen ihren Willen und ohne medizinische Notwendigkeit ein Kaiserschnitt nahegelegt worden sein. Davon berichten zumindest betroffene Frauen und auch Hebammen, die mit der Situation vertraut sind, wie Recherchen des rbb-Studios Frankfurt (Oder) ergeben.
"Ich bin jetzt nach einem Jahr immer noch traurig darüber"
Eine Mutter, die im vergangenen Jahr ihr erstes Kind in Eisenhüttenstadt geboren hatte, ist Julia Scheffler. Im Januar 2022 kam ihr Sohn im Städtischen Krankenhaus zur Welt – per Kaiserschnitt. Noch eineinhalb Jahre danach macht sie sich Vorwürfe, wie sie im Interview berichtet: "Ich bin jetzt nach über einem Jahr immer noch traurig darüber." Denn eigentlich wünschte sich die heute 26-Jährige eine vaginale Geburt, wie sie sagt.
Doch im Kreißsaal sei es schließlich anders gekommen. Obwohl ihre Gynäkologin ihr in Vorgesprächen noch gesagt habe, dass sie eine vaginale Geburt durchaus erleben könnte, habe das medizinische Personal in der Geburtsstation doch zu einem Kaiserschnitt geraten: "Mir wurde halt gesagt, ich sollte das besser”, sagt Scheffler heute.
Als Grund sei ihr gesagt worden, dass ihr Becken zu klein sei und damit Komplikationen möglich seien, sagt sie. "Da wurde mir alles aufgezählt, was passieren kann. Und ich dachte so: Okay, gut. Dann möchte ich doch lieber einen Kaiserschnitt."
Überdurchschnittlicher Kaiserschnitt-Quoten
Als sie im Kreißsaal und in den Wehen gelegen habe, habe das Personal so lange auf sie eingeredet, bis sie schließlich zugestimmt habe, sagt Scheffler. Schließlich wurde ihr das Formblatt für die Patienteninformation vorgelegt, damit sie dem Eingriff zustimmt, wie sie sagt: "Da stand grob alles drauf. Aber ich mit meinem Blasensprung, erstes Kind, voller Aufregung – ich habe doch in der nächsten halben Stunde wieder vergessen, was da stand."
Die Ärztin habe ihr zudem nicht erklärt, was es für Risiken bei einem Kaiserschnitt gebe. "Hätte ich aber gerne gewusst", sagt Scheffler.
Ob es ein System gab und Frauen zum Kaiserschnitt gedrängt wurden, ist bislang nicht nachgewiesen. Klar ist jedoch: Aus dem Krankenhausspiegel Brandenburg [krankenhausspiegel-brandenburg.de] geht hervor, dass bereits 2019 und 2020 hohe Kaiserschnitt-Quoten in Eisenhüttenstadt dokumentiert sind.
Demnach lag 2019 der Anteil der Kaiserschnitte in Eisenhüttenstadt bei 42,4 Prozent und 2020 sogar bei 59,41 Prozent. Auch im vergangenen Jahr soll die Quote bei rund 60 Prozent gelegen haben, wie es vom Land heißt. Zum Vergleich: Im Landes- und Bundesdurchschnitt waren im gleichen Zeitraum rund 30 Prozent aller Geburten Kaiserschnitte.
"Für mich ist das eine Körperverletzung"
Doch wie lässt sich das erklären? Dass werdende Mütter zu einem Kaiserschnitt gedrängt worden seien sollen, berichtet auch Steffi Spranger. Sie arbeitet bis 2019 als Hebamme im Krankenhaus in Eisenhüttenstadt. Ein Grund für die hohe Kaiserschnitt-Quote sieht sie in den eingeschränkten Öffnungszeiten, die auf Personalmangel zurückzuführen seien.
"8 bis 16 Uhr oder 9 bis 17 Uhr: So funktioniert Geburtshilfe nicht", sagt sie. Wann ein Kind zur Welt komme, könnten weder erfahrene Hebammen noch Ärzte voraussagen. "Und wenn ich das dann aufgrund der Zeiteinschränkung beschleunigen muss, dann kann ich schon darauf warten, dass es dem Kind schlecht geht – und dann muss ich einen Kaiserschnitt machen", sagt Spranger.
Auf die Frage, wie die Hebamme das bewerte, wenn medizinisches Personal unter Vortäuschung falscher Tatsachen einer Frau sage, sie brauche einen Kaiserschnitt, antwortete Steffi Spranger: "Für mich ist das eine Körperverletzung. Wenn ich das nur mache, weil es dann schneller geht, dann ist es eine Köperverletzung. Dagegen kann man klagen und man würde gewinnen." Sie habe deswegen gekündigt, weil sie diese Praxis nicht habe mittragen wollen.
Zudem habe es einen häufigen Wechsel bei den zuständigen Ärzten gegeben, berichtet sie. Damit verbunden: die geltenden Leitlinien, die für die Hebammen verbindlich sind. Teilweise sei sie weinend nach Hause gegangen, "weil Dinge umgesetzt und gelebt werden mussten, die ich fachlich nicht richtig fand".
Eine Einschätzung, die Beatrice Manke vom Brandenburger Hebammenverband nachvollziehen kann. Über Jahre sei es trotz Anstrengungen der Geschäftsleitung nicht gelungen, ausreichend Fachpersonal zu gewinnen. "Die Arbeitsbedingungen, die Kolleginnen dort vorgefunden haben, waren mit Sicherheit nicht solche, die andere dazu einladen könnten, im Kreißsaal in Eisenhüttenstadt tätig zu werden", sagt Manke.
Kaiserschnittquote sei vermutlich auf Personalmangel zurückzuführen
Doch steht der Personalmangel und die damit verbundenen Öffnungszeiten in einem Zusammenhang mit den hohen Kaiserschnitt-Quoten? "Das könnte man vermuten", sagt Manke. Es sei schon sehr auffällig, dass "gerade in Eisenhüttenstadt die Kaiserschnittrate so exorbitant hoch war". Vor allem im vergangenen Jahr seien dort Entscheidungen getroffen wurden, die möglicherweise "nicht zu Gunsten der Frauen, sondern zu Gunsten der Finanzen” erfolgt seien.
Denn ein Kaiserschnitt wird derzeit wesentlich besser vergütet als eine vaginale Geburt, wie Manke berichtet. Laut Fallpauschalen-Katalog des Instituts für das Entgeltsystem im Krankenhaus sind die Bewertungen bis zu drei Mal so hoch wie bei einer vaginalen Geburt.
In Euro ausgedrückt: Während die Kosten für eine unkomplizierte vaginale Geburt bei rund 2.000 bis 3.000 Euro liegen, fallen für einen Kaiserschnitt zwischen 3.000 bis 4.000 Euro an, schreibt der Versicherungskonzern Allianz SE [allianz.de]. Ob die hohe Kaiserschnittrate in Eisenhüttenstadt auf medizinische oder finanzielle Gründe zurückzuführen sei, müsse jemand anderes bewerten, betont Beatrice Manke.
Sie sieht jedoch die Geschäftsführung, die Pflegedienstleitung und den Betriebsrat in der Verantwortung, da auf die angesprochenen Missstände von ihrer Seite aus aufmerksam gemacht worden sei. Weder Krankenhaus noch Behörden hätten jedoch reagiert, sagt Beatrice Manke.
Kaiserschnitt-Quote schon 2021 als "inakzeptabel" bewertet
Das sehen die Verantwortlichen aber anders. Wegen der hohen Kaiserschnittquote im Jahr 2021, die das Brandenburgische Ministerium für Soziales, Gesundheit, Integration und Verbraucherschutz (MSGIV) als "inakzeptabel" bewertet, hatte das Ministerium bereits im Sommer 2022 das Krankenhaus zur Stellungnahme aufgefordert, wie aus einer schriftlichen Antwort an den rbb hervorgeht.
Ende 2022 sei zudem nach einem anonymen Hinweis zur Situation in der Geburtshilfe das Krankenhaus zu einer weiteren Stellungnahme - zu den "neuen Vorwürfen und Skizzierung von Maßnahmen nebst Umsetzungsstrategie, falls die Vorwürfe zutreffen" - aufgefordert worden. Der damalige Chefarzt habe daraufhin schriftlich die Vorwürfe "entschieden zurückgewiesen", heißt es in dem Schreiben weiter.
Daraufhin sei verabredet worden, dass künftig die Einleitung eines Kaiserschnitts im Vier-Augen-Prinzip abzusichern ist, was auch das Krankenhaus bestätigt. Laut Geschäftsführer Thomas Lips ist die Qualitätssicherung in allen Bereichen des Krankenhauses überdurchschnittlich – außer eben bei der sogenannten Sectio- sprich Kaiserschnitt-Rate.
Von dem angesprochenen anonymen Hinweis, dass die Einleitung eines Kaiserschnitts nicht "medizinisch adäquat erfolgt" sei, habe er kurz nach seinem Beginn im vergangenen Jahr erfahren und nach eigenen Worten sofort Maßnahmen ergriffen, sagt Lips. "In dieser Situation haben wir uns natürlich mit dem Chefarzt zusammengesetzt. Und der hat uns mündlich sowie schriftlich - und auch alle beteiligten Kollegen haben uns versichert, dass es nicht einen derartigen Fall gibt."
Die Krankenhausleitung habe daraufhin die Dienstanweisung erlassen, "dass die Indikationsstellung – also die Einleitung einer Sectio – nur erfolgen kann, wenn zwei fachärztliche Gynäkologen dies bestätigen", sagt Lips weiter. Das sei jedoch eine reine Vorsichtsmaßnahme gewesen, da es sich bislang nur um Gerüchte gehandelt habe.
"Die Gerüchte sind das eine. Konkret sind wir hier weder kontaktiert noch angesprochen worden, noch habe ich von einer realen Situation jemals Kenntnis erlangt", sagt Lips. Geschäftsführer Lips und die weitere Geschäftsleitung seien aber sehr daran interessiert, dass die Vorwürfe aufgeklärt würden. "Weil ich glaube, das ist erforderlich, um einen Neustart hier überhaupt zu ermöglichen."
Kreißsaal seit Juli wegen Personalmangel geschlossen
Denn seit dem 1. Juli ist der Kreißsaal wegen Personalmangels - und weil der langjährige Chefarzt zum 30. Juni gekündigt hatte – geschlossen. Bislang bis Ende des Jahres, wie das Krankenhaus damals mitteilte. Erst die Recherchen des rbb-Studios Frankfurt hätten die Verantwortlichen noch einmal auf die im Raum stehenden Vorwürfe aufmerksam gemacht, bestätigt die Aufsichtsratsvorsitzende Ingrid Siebke.
Demnächst solle sich auch der Aufsichtsrat in einer Sondersitzung mit der Thematik befassen: "Wir werden alle Fakten vortragen, der Geschäftsführer und ich - was ich inzwischen weiß", sagt sie und kündigt diesbezüglich Transparenz ihrerseits an. Zudem: "Ich denke schon, wie ich meine Kollegen kenne, wollen die auch die Wahrheit wissen."
Auch Julia Scheffler, die ihr erstes Kind im vergangenen Jahr noch per Kaiserschnitt im Städtischen Krankenhaus in Eisenhüttenstadt zur Welt brachte, wünscht sich Aufklärung, wie sie sagt. Mittlerweile ist sie mit ihrem zweiten Kind im achten Monat schwanger und hofft nun auf eine vaginale Geburt. Zur Schließung des Kreißsaals sagt die Eisenhüttenstädterin: "Ich bin jetzt nicht traurig darüber – muss ich ehrlich sagen.” Sie will nun in Frankfurt (Oder) entbinden.
Sendung: rbb24 Brandenburg aktuell, 13.07.2023, 19:30 Uhr
Die Recherche für das rbb-Studio Frankfurt (Oder) stammt von Sabine Tzitschke, Michael Lietz und Martin Krauß.