Katholische Kirche in Frankfurt (Oder) - Gemeinde informiert Mitglieder erst nach Jahren über Missbrauchsvorwürfe
Ein Pfarrer soll in der katholischen Gemeinde in Frankfurt (Oder) Jungen sexuell missbraucht haben. 2021 tauchen die Vorwürfe in einem Gutachten des Erzbistums Berlin auf. Die Gemeinde informiert ihre Mitglieder erst jetzt. Von Felicitas Montag
Jahrelang wurden Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche vertuscht oder verschwiegen - auch in Berlin und Brandenburg. Inzwischen gibt es dazu Gutachten, Beauftragte und Gremien - ein Fall aus Frankfurt (oder) aber zeigt, wie sehr die Aufklärung an der Oberfläche bleiben kann.
Frankfurt (Oder) gehört zum Erzbistum Berlin, das auch weite Teile von Brandenburg und Vorpommern umfasst. Auch hier wird inzwischen versucht, Missbrauchsvorwürfe aufzuklären. So veröffentlichte das Erzbistum Berlin im Juni 2021 ein Gutachten über sexualisierte Gewalt an Minderjährigen. Der Bericht dokumentiert die Fälle von 61 Geistlichen, die mindestens 121 Kinder und Jugendliche in der Zeit von 1946 bis 2020 sexuell missbraucht haben sollen [erzbistum.de] - darunter der Fall eines Pfarrers, der unter anderem in Frankfurt (Oder) tätig war.
Auf mehr als acht Seiten wird geschildert, wie sich der Mann über Jahre hinweg an Minderjährigen vergriffen haben soll. Laut Gutachten wurde das Erzbistum im Jahr 2013 erstmals darauf hingewiesen. Erst zehn Monate später sei der Pfarrer mit den Vorwürfen konfrontiert worden und habe 2014 zugegeben, mit 16- bis 18-Jährigen sexuell aktiv gewesen zu sein - ohne weitere Folgen. Aufgrund "multipler Versäumnisse", so heißt es, sei der Pfarrer bis zu seinem Tod im Jahr 2017 nicht belangt worden.
Ein weiteres Versäumnis: Aktiv informiert wurden die Mitglieder der Gemeinde, in der Pfarrer tätig gewesen war, bis vor Kurzem nicht. Die gesamte Kirchengemeinde Heilig Kreuz in Frankfurt (Oder) wurde erst vor wenigen Wochen über die Vorgänge im aktuellen Gemeindebrief informiert [heilig-kreuz-ffo.de / PDF]. Zehn Jahre, nachdem innerhalb des Bistums die ersten Hinweise eingegangen waren. Zuerst hatte darüber die "MOZ" [Bezahlschranke] berichtet.
Der Sprecher des Erzbistums Berlin, Stefan Förner, gibt zu, dass die reine Veröffentlichung des Gutachtens 2021 offenbar nicht ausgereicht habe, um alle Gemeindemitglieder umfassend und zeitnah über die Vorfälle zu informieren. Es brauche Zeit, "bis es aus den Akten heraus in das Bewusstsein der Menschen kommt", sagte Förner dem rbb. "Damit müssen wir leben, dass wir etwas schon bearbeitet haben, aber es damit noch nicht abgeschlossen ist."
Gemeinden müssen Aufklärung selbst vorantreiben
"Die Gemeinden müssen aktiv werden, sonst passiert gar nichts," sagte dazu der Vorsitzende des Pfarreibeirats, Martin Patzelt. Er ist der ehemalige Frankfurter Oberbürgermeister und sitzt seit drei Jahren im Gemeinderat. Das Bistum sei um Aufklärung und Transparenz bemüht, "das Bistum bietet uns Hilfe an." Ihm sei aber nicht bekannt, dass das Bistum einen Infobrief an die Gemeinde geschickt habe, in dem über den Inhalt des Gutachtens aufgeklärt wurde, sagte Patzelt dem rbb.
Wie Förner nach der Erstveröffentlichung dieses Textes mitteilte, wurde alle Gemeinden im Erzbistum durch einen Brief des Erzbischofs auf das Gutachten aufmerksam gemacht, "allen wurde das Angebot gemacht, über Fälle ins Gespräch zu kommen". Allerdings klärt dieses Schreiben nicht über konkrete Vorfälle auf, sondern bietet den Gemeinden Gesprächsmöglichkeiten mit dem Erzbistum an [erzbistumberlin.de].
Erst auf Initiative von Gemeindemitgliedern selbst kam schließlich etwas ins Rollen. So hätten ihn nach Veröffentlichung des Gutachtens zwei Frauen aus der Gemeinde als Vorsitzenden des Pfarreibeirats angesprochen und eingefordert, dass über die Vorwürfe des ehemaligen Pfarrers in der Gemeinde aufgeklärt wird, sagte Patzelt dem rbb. Erst eineinhalb Jahre später, im November 2022, habe ein erstes Gespräch mit Erzbischof Heiner Koch in Frankfurt stattgefunden. "Ich habe es ernst genommen, aber nicht genug Druck beim Erzbistum gemacht, dass der Termin früher stattfindet", sagt Patzelt inzwischen selbstkritisch.
Bei dem Treffen informierte der Bischof dann über das Missbrauchsgutachten und aktuelle Anlaufstellen für Betroffene. Dabei berichtete auch ein Betroffener davon, dass er als Jugendlicher durch den Pfarrer sexuell missbraucht worden sei. Ende Februar dieses Jahres erfolgte ein zweites Treffen im Frankfurter Kolbe-Haus mit Betroffenen sexualisierter Gewalt. Dabei seien auch weitere Missbrauchsvorwürfe gegen andere Pfarrer in Frankfurt (Oder) und Buckow-Müncheberg (Märkisch-Oderland) zur Sprache gekommen, sagte Patzelt. Von der ganzen Bandbreite der Vorwürfe in der Region erfuhren viele Gemeindemitglieder aber erst durch den aktuellen Gemeindebrief.
Gemeindebrief informiert über Vorwürfe
Darin informiert der freie Journalist und langjähriges Mitglied der Kirchengemeinde, Georg Langer, über das Gutachten des Erzbistums und Schilderungen von Betroffenen. Für seinen Artikel sprach er mit rund 20 mutmaßlichen Betroffenen und Zeugen, nachdem ihn zuvor ein befreundeter Pfarrer auf das Gutachten aufmerksam gemacht hatte.
Langer selbst hatte den 2017 verstorbenen Pfarrer, der 1972 als Kaplan nach Frankfurt (Oder) gekommen war, in den 1980er Jahren kennengelernt. "Ursprünglich fand ich ihn sehr sympathisch", sagte der 51-Jährige dem rbb. "Ich selbst hatte nie Probleme mit ihm." Von Vorwürfen sexueller Übergriffe habe er dann später aus dem Gutachten erfahren.
Gutachten mit Schwärzungen
Dass Gemeindemitglieder erst Jahre nach der Veröffentlichung von dem Gutachten und den Missbrauchsvorwürfen erfahren, wundere sie nicht, sagt Sabine Otto. Die Sprecherin des Betroffenenbeirats Ost und Mitglied der Aufarbeitungskommission sieht immer noch viele Probleme, wie in der katholischen Kirche mit Aufklärung und Aufarbeitung von Missbrauch umgegangen wird.
Otto sitzt im Betroffenenbeirat - einem Gremium, dass jedes Bistum einrichten muss. Grundlage dafür ist eine gemeinsame Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und der Unabhängigen Beauftragen für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) der Bundesregierung.
Sabine Otto kritisiert unter anderem, dass das Gutachten nur teilweise geschwärzt der Öffentlichkeit zugänglich ist. Laut Erzbistum sollen unter anderem Persönlichkeitsrechte von Betroffenen geschützt werden. Aber auch Orte und Dienstbezeichnungen mutmaßlicher Täter seien unkenntlich gemacht worden, kritisiert Otto gegenüber dem rbb. "Der Antrag des Betroffenenbeirats, selbst unter Schweigepflicht die ungeschwärzte Version sehen zu können, um überhaupt sinnvoll arbeiten zu können, ist abgelehnt worden. Wenn nicht mal die inzwischen konstituierte Aufarbeitungskommission Zugang zur ungeschwärzten Version bekommt - wie soll dann eine Aufarbeitung überhaupt funktionieren?"
"Keine Möglichkeit für Betroffene, sich zu melden"
Für Sabine Otto gehört zur Aufarbeitung vor allem, dass das Bistum mit Betroffenen auf Augenhöhe zusammenarbeitet. Doch das erfolgt laut Otto kaum: "Es gibt zwar den Betroffenenbeirat, es gibt aber praktisch keine Absprachen zwischen dem Erzbistum und dem Betroffenenbeirat. Der Betroffenenbeirat weiß nicht, mit welchen Fällen sich das Bistum überhaupt beschäftigt, noch ist er in irgendeiner Weise beteiligt."
Auch ein Gutachten zu sexualisierter Gewalt sei ohne Beteiligung von Betroffenen entstanden, erklärt die Beiratssprecherin. Sie spricht von einem reinen Aktengutachten. "Da ist nichts weiter gemacht worden, als dass im Erzbistum vorhandene Unterlagen von einer Rechtsanwaltskanzlei durchgeguckt worden sind, um zu schauen, ob es einen Handlungsbedarf für die Bistumsleitung gibt. Es gab nicht die Möglichkeit, dass sich Betroffene oder Zeugen melden konnten."
Von den Personen, mit denen Georg Langer in Frankfurt (Oder) gesprochen hat und die nach eigenen Angaben Opfer des Pfarrers wurden, hat sich laut Langer nur einer an Vertreter der Kirche gewandt. "Sie wollten nicht mit einem Vertreter der Kirche reden und auch nicht mit jemanden, der von der Kirche beauftragt ist", so der 51-Jährige. "Zum großen Teil haben sie ihr Vertrauen in die Kirche verloren."
Erzbistum räumt Versäumnisse ein
Stefan Förner, Sprecher des Erzbistums Berlin, räumt gegenüber dem rbb viele Versäumnisse der Kirche in der Vergangenheit ein. "Es ist in vielen Fällen nicht hingeguckt worden, man hat es nicht ernst genommen. Man hat auch teilweise in den Pfarreien, wenn sich Kinder selbst gemeldet haben bei ihren Eltern, das nicht ernst genommen, im Sinne von: 'Das kann nicht sein, dass der Pfarrer so etwas tut'."
Man bemühe sich aber, nun weitere mögliche Missbrauchsfälle im Erzbistum Berlin aufzuklären, beteuert er. "Wir sind dankbar über jeden, der sich seiner schweren und leidvollen Vergangenheit stellt und uns hilft das ganze Ausmaß zur Kenntnis zu nehmen und es nicht weiter zu vertuschen."
Das Leid der Menschen werde sowohl inhaltlich als auch finanziell - ohne juristischen Beleg - anerkannt, beteuerte Förner. Im vergangenen Jahr wurden laut Erzbistum zehn Anträge auf finanzielle Leistungen zur Anerkennung des Leids gestellt. Rund 400.000 Euro wurden demnach an die Betroffenen gezahlt.
Sabine Otto empfiehlt Betroffenen eindringlich, sich zu allererst an unabhängige Hilfsorganisationen wie den Weißen Ring, Wildwasser oder die Opferhilfe der Länder zu wenden, bevor sie ihr Leid der Kirche anvertrauen.
Sendung: Antenne Brandenburg, 05.07.2023, 16:10 Uhr