Interview | Eurovision Song Contest - "Der ESC ist in jedem Jahr in irgendeiner Form politisch"
Am Dienstag beginnt der 68. Eurovision Song Contest in Malmö. Expertin Alina Stiegler erklärt im Interview, wie politisch die Show ist, was die Boykottaufrufe gegen Israels Teilnehmerin Eden Golan bedeuten - und was sie vom deutschen Kandidaten hält.
rbb|24: Frau Stiegler, Sie sind seit einer Woche in Malmö und berichten über die Vorbereitungen zum ESC 2024. Wegen der Boykottaufrufe gegen die Teilnahme Israels gibt es in diesem Jahr deutlich strengere Sicherheitsvorkehrungen. Wie nehmen Sie das wahr?
Alina Stiegler: Das Erste, was man merkt, wenn man morgens in die Lobby runtergeht, sind die Polizistinnen und Polizisten mit Maschinengewehren. Hier sind 17 Delegationen untergebracht, dazu auch Medienvertreter:innen, außerdem findet hier die offizielle ESC-Party statt – das Haus wird also streng überwacht. Das gab es in anderen Jahren nicht, dass du morgens schon direkt in ein Maschinengewehr geguckt hast.
Man merkt, dass die Innenstadt stark gesichert ist, mit sehr viel Polizeipräsenz. Die Demonstrationen, von denen man hört, die finden woanders statt, wir kriegen davon nichts mit. Der Bereich um das Hotel und die Veranstaltungshalle herum ist so gut gesichert, es gibt bisher auch recht wenig Touristen oder Publikumsverkehr.
Aber viel schlimmer ist die Sicherheitslage für die israelische Delegation: Die sitzt abgeschirmt in einem anderen Hotel, von dem wir nicht wissen, wo es ist. Gegen die Sängerin Eden Golan gibt es Morddrohungen, sie darf mit ihrem Team nur in die Halle zu Proben und dem Auftritt fahren, dann geht es gleich wieder ins Hotel.
Eden Golans erste beiden eingereichten Songs wurden abgelehnt, mit der Begründung: zu politisch. "October Rain" und "Dance Forever" hatten klare Bezüge zu den Massakern der Hamas. Dann schaltete sich sogar Israels Staatspräsident Herzog ein und forderte, den Text anzupassen. "Hurricane" ist der Europäischen Rundfunkunion EBU jetzt unpolitisch genug. Wie bewerten Sie die Entscheidung? Zeigt das nicht, wie politisch der Wettbewerb in Wahrheit ist?
Der Wettbewerb ist in jedem Jahr in irgendeiner Form politisch. Das haben wir zum Beispiel auch 2022 nach dem Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine gesehen. Der ESC in Turin war damals sehr politisch aufgeladen. Bei den betreffenden Songs und den Songtexten muss ich sagen, dass ich da eigentlich nur den Kopf schütteln konnte: Wenn ich vergleiche, mit welchen Liedern teilweise auch beim ESC gewonnen wurde, dann frage ich mich, wo da die Grenzen verlaufen. Die wurden in diesem Jahr scheinbar anders gezogen als in den vergangenen Jahren.
Welchen Song meinen Sie?
"1944" von der ukrainischen Sängerin Jamala war der Gewinnersong 2016 in Stockholm [youtube.com]. Der erzählt von der Vertreibung der Krimtataren. Es ist zwar ein persönlicher Song, weil es um ihre eigene Familiengeschichte geht, aber es ist natürlich ein reales Ereignis, über das sie singt.
Eden Golan durfte nicht darüber singen, dass sie für immer tanzen will mit ihren Freundinnen und Freunden, die sie möglicherweise durch die Massaker der Hamas verloren hat. Diese Entscheidung der EBU konnte ich nicht nachvollziehen. Ich bin aber trotzdem froh, dass sie es im dritten Anlauf geschafft haben, dass der Song, so wie er jetzt ist, aufgeführt werden kann.
Fallen Ihnen andere Beispiele aus der Geschichte des Wettbewerbs ein, bei denen es ähnlich politisch wurde?
2009 gab es den Song "We don't wanna put in" der georgischen Band "Stefane & 3G", damit wollte sie beim ESC in Moskau antreten. Die Zeile klang gesungen natürlich wie "We don’t want a Putin". Das Lied wurde nicht zugelassen. Nach wochenlangen Protesten der russischen Seite hat die Band dann zurückgezogen, weil sie sich geweigert hat, irgendwas an dem Song zu ändern [eurovision.de].
Und es gab immer wieder Flaggen, die in den Live-Shows verbotenerweise gezeigt wurden: Zum Beispiel 2016 die Flagge von Bergkarabach, die die armenische Künstlerin hochhielt. Oder 2019 in Tel Aviv: Da hat die isländische Band Hatari die palästinensische Fahne gezeigt. Das ist ganz klar gegen die Regeln der EBU, denn da sind nur die offiziellen Flaggen der Uno-Länder, der EU und unpolitische wie die Regenbogenfahne erlaubt.
Mehrere ehemalige ESC-Teilnehmer und andere Künstlerinnen und Künstler haben in einem offenen Brief den Ausschluss Israels aus dem Wettbewerb gefordert. Hat Sie diese Vehemenz überrascht?
Ja, es hat mich schon überrascht, dass auch Künstler sich so politisch äußern. In den letzten Jahren war das eher ungewöhnlich. Wenn ich jetzt nochmal an 2022 in Turin denke: Da gab es zwar die Litauer, die sich sehr nah an die Seite der Ukraine gestellt haben. Aber viele andere Künstler waren da eher neutral, weil es ihnen dann vor Ort um den Wettbewerb ging, um ihre Proben, um die Musik. In diesem Jahr ist das anders.
Was mich aber ebenfalls überrascht hat: Die Künstler, die sich da im Vorfeld so stark gemacht und mit Boykott gedroht haben, zum Beispiel Finnland, sind jetzt trotzdem alle gekommen. Auf die Bühne des ESC werden sie jetzt nicht verzichten, obwohl sie laut darüber nachgedacht haben. Mich wundert, dass sie jetzt nicht mehr bereit sind, darüber zu sprechen.
Die EBU sah sich genötigt zu der Feststellung, beim ESC träten keine Regierungen, sondern Rundfunkanstalten gegeneinander an. Aber wieviel von dieser Differenzierung kommt draußen bei den Zuschauer:innen in Wahrheit an?
Ich bin zwar Berichterstatterin, aber ich bin ja auch ESC-Fan und das ist etwas, was mich seit Jahren sehr traurig macht: Dass wir überhaupt darüber sprechen, dass man gegeneinander antritt. Denn der Gedanke des Eurovision Song Contest, früher Grand Prix, war, als er 1956 ins Leben gerufen wurde: Wir stellen uns gegenseitig unsere Lieder vor, wir präsentieren uns gegenseitig unsere Unterschiede, nehmen sie aber an und lernen sie schätzen. Und das ist eigentlich auch immer noch der Geist des ESC. Es geht nicht wie bei der Fußball-WM darum, den Titel nach Hause zu holen, sondern darum, zusammenzukommen. Aber nach außen hin ist das eben oft die Wahrnehmung: Da treten Länder gegeneinander an. Kann ich so nicht unterschreiben.
Warum?
Ein Beispiel: Man sieht immer wieder queere Künstler, die aus Ländern kommen, wo sie sich eigentlich offiziell nicht outen können, weil das gesellschaftlich nicht akzeptiert ist. Das zeigt, dass es eben doch nicht Regierungen sind oder Politik, die da gemacht wird - sondern dass kreative Rundfunkanstalten sagen; wir haben hier einen tollen Künstler, eine tolle Künstlerin mit einem schönen Song und den wollen wir gerne den anderen Ländern zeigen.
Stichwort ESC-Ultra: Wenn ich diese Show noch nie gesehen habe, wie würden Sie mir erklären, warum ich mir das ansehen soll?
Weil du innerhalb von ein paar Stunden durch ganz Europa und Australien reisen kannst. Du bist in diesem Jahr in einem armenischen Wohnzimmer zu Hause mit Tönen, die du wahrscheinlich so in deinem Alltag noch nie gehört hast. Und reist dann weiter nach Down Under, wo du eine der ältesten Sprachen Australiens, nämlich eine Aborigine-Sprache, auf die Bühne gebracht bekommst - mit einem Didgeridoo, mit Instrumenten und Tönen, die wir in unserem Alltag im Wedding oder in der Uckermark wahrscheinlich eher seltener hören.
Und das ist das Besondere am ESC: Du erfährst etwas von anderen Kulturen, von Musikrichtungen, von denen du vorher gar nicht wusstest, dass du sie brauchst in deinem Leben. Aber die werden dich danach nie wieder verlassen. Im besten Fall gehst du dann auch noch mit einem schönen Ohrwurm ins Bett.
Warum ist eigentlich Australien dabei?
Australien hat die besseren ESC-Fans. Die sind schon seit vielen, vielen Jahrzehnten absolut begeisterte ESC-Schauer. Übrigens müssen die Armen um 5 Uhr morgens schauen, die machen sich das dann nett, mit Trinkspielen: Wenn auf der Bühne eine Windmaschine kommt, müssen alle trinken. Wenn nackte Trommler kommen, wird auch noch mal einer getrunken. Irgendwann haben sie gesagt: Wir wollen auch gerne selber mal teilnehmen, dürfen wir? Und die EBU hat gesagt: Ja, warum nicht? Und seit fast zehn Jahren ist Australien inzwischen dabei - mit sehr großer Begeisterung und auch mit tollen Künstlern.
Jetzt eine Schnellfragerunde.
Ihr Musikgeschmack: Abba, Lordi oder Salvador Sobral?
Abba.
Punkte für Isaak, den deutschen Beitrag: 0, 100 oder 700?
Sehr schwierig. Auf keinen Fall 0. Ich würde sagen eher 100. Wir streben mal die Mitte an.
Moderation: Jan Böhmermann & Olli Schulz oder Thorsten Schorn?
Natürlich Thorsten Schorn!
Beste deutsche ESC-Teilnehmer:innen:
Lena Meyer-Landrut, Stefan Raab, Guildo Horn oder Nicole?
Guildo Horn. Das war nämlich mein erster ESC, an den ich mich erinnern kann.
ESC mit Freunden und Freundinnen gucken:
Ironisch mit viel Alkohol oder bierernst mit Strich- und Punkteliste?
Ganz klar mit Strich- und Punkteliste.
Zum Schluss: Wer wird dieses Mal gewinnen?
Es war noch nie so offen, wie in diesem Jahr. Aber ich könnte mir vorstellen, dass sich der Zweitplatzierte schon mal darüber Gedanken machen sollte, wie er den Sieg der Ukraine hostet. (schmunzelt)
Und welche Chancen räumen Sie Isaak ein?
Wir werden überrascht sein von der Inszenierung, bei den Proben konnte man schon was sehen. Ich bin mir sicher, dass er wegen dieser vielen Spaßnummern, die wir in diesem Jahr haben, mit seiner Powerballade im positiven Sinne hervorstechen wird. Wir können uns auf jeden Fall auf Punkte von den Jurys freuen – und hoffentlich auf viele Anrufer.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sebastian Schneider, rbb|24
Sendung: radio3, 07.05.2024, 6 Uhr