Theaterkritik | "Glaube, Geld, Krieg und Liebe" - Die Magie der Zufälle

Fr 04.10.24 | 11:08 Uhr | Von Barbara Behrendt
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Szene aus "Glaube, Geld, Krieg und Liebe", von Robert Lepage.(Quelle:Gianmarco Bresadola)
Audio: rbb24 Inforadio | 04.10.2024 | Brabrara Behrendt | Bild: Gianmarco Bresadola

Robert Lepage inszeniert zum ersten Mal seit 40 Jahren in Deutschland. Aus einem Kartenspiel hat er mit dem Ensemble der Schaubühne ein fünfstündiges, zauberhaftes Melodram über "Glaube, Geld, Krieg und Liebe" in 80 Jahren deutscher Geschichte entwickelt. Von Barbara Behrendt

Vier LED-Bilder hängen von der Bühne herab und leuchten im Dunkeln. Vier Spielkarten. Noch sehen wir nur ihre Rückseiten. Doch bald schon blättern diese digitalen Leuchtfenster Schicksalsstränge auf, die alle miteinander verwoben sind. Klosterfenster erscheinen, später Bücherwände, Café-Fassaden, die Speisekarten einer Imbissbude, die Anzeigetafeln am Flughafen.

Ein Bühnenbild wie ein magisches Kartenspiel

Sie drehen sich horizontal und vertikal, wie ein Zauberwürfel. Das animierte Bild vom Spielautomaten blinkt und dudelt, als reagierte es auf die Tasten, die Stephanie Eidt drückt. Die Schüsse, die Christoph Gawenda später auf die aufleuchtende Zielscheibe abgibt, fräsen sich tatsächlich virtuell ins Bild. Eine so einfache wie trickreiche und geniale Ästhetik, die der Regisseur und gleichzeitig Bühnenbildner Robert Lepage (mit Ulla Willis) entworfen hat.

Vier Bilder, vier Spielkarten, vier Trümpfe: "Glaube Geld, Krieg und Liebe" heißt die Inszenierung, deren vier Handlungsstränge Lepage gemeinsam mit dem Ensemble der Schaubühne erarbeitet hat. Es ist ein Coup, dass der Intendant Thomas Ostermeier, nach 20 Jahren baggern, den frankokanadischen, weltberühmten Regisseur nach Deutschland holen konnte – in Berlin inszeniert Lepage zum ersten Mal.

Vom Nonnenkloster ins Casino bis nach Afghanistan

In vier Akten erzählt der Abend Geschichten aus 80 Jahren deutscher Geschichte. Es beginnt mit dem Glauben – Trumpf Kreuz. Ein dunkelhäutiges Baby wird während der amerikanischen Besatzung 1945 in ein Nonnenkloster bei Wiesbaden gegeben. Als junges Mädchen geht es nach Paris, wird Model, wird schwanger und gibt die eigenen Zwillingsbabys ebenfalls ab: ins Waisenhaus. Trumpf Geld rückt in die 1990er Jahre nach Baden-Baden vor, wo eine Frau ihr Nazi-Familienerbe im Casino verspielt. Bei Pik und damit Krieg steht später ihr Sohn im Zentrum: Er kommt traumatisiert als Veteran aus Afghanistan zurück, es ist das Jahr 2011. Seinen Kameraden, damit beginnt Trumpf Herz, trifft er in Berlin wieder, als dieser mit seinem Mann eine ukrainische Leihmutter engagiert – doch noch vor dem Geburtstermin folgt die russische Invasion am 24. Februar 2022.

Alle Figuren sind auf unterschiedlichen Zeitebenen verwoben, Lepage erzählt davon, durch welche magischen Zufälle die Welt vorangetrieben wird. Etwa das ehemalige Model, selbst Waisenkind, das die eigenen Kinder ins Waisenhaus gegeben hat – und bei einer Spendengala 30 Jahre später versehentlich ihren eigenen Sohn abschleppt.

Ach, diese Menschen

Zauberkünstler geben eine Show fürs Publikum, Figuren werden vom Teufel versucht und von Wahrsagerinnen geleitet. Ein großes, magisches Melodram, das seine märchenhaften Geschichten mit einem Augenzwinkern und einem ironischen Schulturzucken erzählt: ach, diese Menschen.

Mit wenigen präzisen, perfekten Handgriffen lässt Lepage die unterschiedlichsten Szenerien entstehen. Ein paar Stühle, ovale Fenster auf den Bildschirmen, schon sitzt man mit den Figuren im Flugzeug. Die große Technik-Crew bleibt im Verborgenen, nur das Ensemble trägt Stühle und Tische herein, die Bilder drehen sich geräuschlos im Dunkeln als sei es Zauberei. Seinen Ruf als Bühnenmagier, als Erfinder der großen poetischen Bilder trägt Lepage zu Recht. Und wird dafür mit Standing Ovations gefeiert.

Herausragendes Ensemble

Das Ensemble hat sichtlich seine Freude mit den vielen leidenden und zugleich leicht lächerlichen Figuren, die im fliegenden Wechsel und manchmal im Minutentakt Hunderte Kostüme und Perücken tauschen. Alles greift in dieser wirklich herausragenden, realistisch-psychologischen Ensemblearbeit wie ein Uhrwerk ineinander: Bastian Reiber, Stephanie Eidth, Stefan Stern, Alina Vimbai Strähler, Christoph Gawenda, Damir Avdic und Magdalena Lermer – allesamt beeindruckend.

Ganz undeutsch und unökonomisch ist es, wie viel Zeit sich Lepage für das Ausspielen der Szenen nimmt. Manche bestehen nur aus einer Zugfahrt. Die Landschaft zieht an den Fenstern vorüber. Jemand singt ein Lied. Für die Handlung völlig überflüssig. Doch daraus entsteht der lange, epische Flow, der einen warm und zuverlässig durch die fünf Stunden trägt. Keine Sekunde ist langweilig oder überflüssig. Wie in einer Serie bingewatched man sich wohlig durch die vier Teile und staunt über die Bühnenwunder.

Szene aus "Glaube, Geld, Krieg und Liebe", von Robert Lepage.(Quelle:Gianmarco Bresadola)Szene mit Stephanie Eidt und Christoph Gawenda

Theater als Kommunion, nicht als Kommunikation

Inhaltlich bleibt allerdings vieles enttäuschend. Über 80 Jahre deutsche Geschichte erzählt Lepage nur vage, stereotyp und mit uralten Bildern. Mit Deutschland verbindet er anscheinend nur das Casino in Baden-Baden, Berlin-Alexanderplatz und ein bisschen DDR. Und macht es wirklich Sinn, den Ukraine-Krieg über die Geschichte einer Leihmutterschaft zu erzählen? Und den Afghanistan-Einsatz über den Verlust eines geliebten Hundes?

Der Abend kann auch längst nicht mit seinem Meisterwerk "The Seven Streams Of The River Ota" mithalten: ein siebenstündiges, ergreifendes Epos über die US-amerikanische Geschichte. Nach 30 Jahren war die Produktion 2022 an der Schaubühne zu sehen – noch immer ein Jahrhundertwerk.

Doch man nimmt es Lepage nicht krumm. Weil es in seinem Theater, so sagte er es mir einmal in einem Interview, nicht um Kommunikation geht, sondern um Kommunion. Um das Zusammenkommen. Das gemeinsame Sitzen im Theater, das gemeinsame Lachen und Weinen. Es wird in diesem sehr menschenfreundlichen, humorvollen, höchst unterhaltsamen und liebevollen Abend aufs Schönste zelebriert.

Sendung: rbb24 Inforadio, 04.10.2024, 8:55 Uhr

Beitrag von Barbara Behrendt

1 Kommentar

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  1. 1.

    Trotzdem interessant!

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