Interview | Kazim Erdoğan - "Väter als Vorbilder haben immer gefehlt"

Do 04.01.24 | 13:12 Uhr | Von Wolf Siebert
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Archivbild: Einsatzkräfte der Polizei stehen unweit vom Kottbuser Damm. (Quelle: dpa/Zinken)
Bild: dpa/Zinken

Die Silvester-Randale in Berlin war nicht so verheerend wie im Jahr zuvor. Dennoch gab es wieder zahlreiche verletzte Polizisten und Festnahmen. Ein Gespräch mit Kazim Erdoğan, Gründer des Vereins Aufbruch Neukölln, über Gewaltprävention.

rbb|24: Herr Erdoğan, wie ist Ihre Bilanz der Silvesternacht?

Kazim Erdoğan: Meine Bilanz ist nüchtern. Jeder Fall, jeder verletzte Polizist, jeder verletzte Passant ist einer zu viel. Wir haben meiner Meinung nach unsere Ziele noch nicht erreichen können.

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Kazim Erdogan. (Quelle: rbb)
rbb

Kazim Erdoğan ist Psychologe und Soziologe. Der 70-Jährige engagiert sich in der Familienarbeit mit Vätern in Berlin. Erdoğan gehört zu den führenden Experten im Bereich Integration von Zugewanderten. Seit 2007 leitet er die deutschlandweit erste "Väter- und Männergruppe" für türkeistämmige Männer.

Das heißt, wir können noch nicht sagen, dass dieser leichte Rückgang an Gewalttaten auf die Gewaltpräventionsmaßnahmen, die im letzten Jahr eingeführt worden sind, zurückzuführen ist?

Das ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Aber es ist noch kein Durchbruch, wir können nicht sagen, dass wir mit unseren Leistungen angekommen sind.

Sie sind der Gründer der Vätergruppen. Damals ging es überwiegend um türkische Väter, mit denen sie ins Gespräch kommen wollten – über Vaterrollen, über Familienstrukturen, die durch Männer geprägt sind, aber auch über traditionelle Vorstellungen von Moral und Familienehre. Sie setzen diese Arbeit jetzt fort mit dem Schwerpunkt Vater und Erziehung. Warum ist das so wichtig beim Thema Gewaltprävention?

Wenn wir die Ereignisse in den letzten 20 Jahre unter der Lupe nehmen – Intensivtäter, junge Menschen, die auffallen, die sich dem IS angeschlossen und in Syrien und dem Irak gekämpft haben – dann stellen wir fest, dass sie meistens von alleinerziehenden Müttern großgezogen und betreut worden sind. Väter als Vorbilder haben da immer gefehlt.

Und wir stellen fest, dass in unserem Land leider die Scheidungsraten rapide in den letzten Jahren nach oben gegangen sind. Bildung und Erziehung ohne Väter ist Bildung und Erziehung auf einem Bein, das kann auf Dauer nicht gut gehen. Und gerade deshalb ist die größte Aufgabe, die vor uns liegt, dass wir Väter und Männer, auch Opas, mit ins Boot nehmen und gemeinsam eine Mannschaft bilden, um die Bälle in die gleiche Richtung zu spielen.

Berlin ist eine multikulturelle Stadt. Allein in Neukölln leben Menschen aus über einhundert Ländern dieser Erde. Und in vielen dieser Länder gibt es andere Erziehungsvorstellungen. Können Sie als jemand, der Projekte anschiebt, auch darauf einwirken und versuchen Sie, darüber zu sprechen?

Wir kommen mit den Vätern ins Gespräch, indem wir sagen, die Erziehungsmethoden, die in Anatolien oder in vielen arabischen Ländern galten, gelten hier nicht mehr. Wenn sie Druck ausüben und die Kinder zu Maßnahmen zwingen, zu denen sie nicht bereit sind, erreichen Sie das Gegenteil. Wir versuchen, den Vätern eine gewaltfreie Erziehung zu vermitteln - und das mit Empathie, mit Ruhe, Geduld und Gelassenheit bestimmte Dinge besser zu erreichen sind, als durch Druck.

Wenn man die Eltern und Großeltern für eine gewaltfreie Erziehung gewinnt und den Schwerpunkt auf eine gesunde Kommunikation legt, dann haben wir die jungen Menschen erreicht.

Kazim Erdoğan, Psychologe

Männer gegen Gewalt – also nicht Jugendliche gegen Gewalt, das heißt, man muss Jugendliche, ältere Brüder, Väter, Onkel, Opas mit einbeziehen, auch weil die Jugendlichen selbst Gewalt in der Familie erlebt haben?

Wenn man die Eltern und Großeltern für eine gewaltfreie Erziehung gewinnt und den Schwerpunkt auf eine gesunde Kommunikation legt, dann haben wir die jungen Menschen erreicht. Die Vorbilder sind ja die Eltern und Großeltern, und die Menschen lernen von ihren Vorbildern. Wenn sie zu Hause Liebe, Zuneigung und Aufmerksamkeit erfahren, geben sie das draußen auf der Straße und in Bildungseinrichtungen weiter.

Diese Botschaft verbreiten sie auch in Flüchtlingsunterkünften. Wir sind denn da ihre ersten Erfahrungen?

Wir haben insgesamt bisher in sieben Flüchtlingseinrichtungen thematische Elternabende in vier Sprachen angeboten. Das Interesse und die Aufmerksamkeit waren sehr groß. Die Flüchtlingsunterkünfte sind auch jetzt bereit, mit uns gemeinsam in dieselbe Richtung zu gehen. Und das wollen wir ab sofort mit allen Flüchtlingsunterkünften machen, die bereit sind, mit uns zusammenzuarbeiten. Wir wollen Konzepte entwickeln, aber nicht unseren Stempel aufdrücken, sondern uns auf Augenhöhe ernstnehmen.

Lehrerinnen und Lehrern in Berlin spiegeln, dass es auch in biodeutschen Familien dieses Problem der fehlenden Kommunikation zwischen Eltern und Kindern gibt. Teilweise wird gar nicht oder mit Überstrenge erzogen. Erreichen sie durch ihre Projekte auch diese Gruppe oder müssen das andere übernehmen?

Nein, wir wollen auch in den Bildungseinrichtungen ohne Unterschiede zu machen mit allen Eltern zu erzieherischen schulischen, familiären oder sozialen Themen ins Gespräch kommen, weil die Herausforderungen vielschichtig sind. Und deshalb wollen wir durch vielfältige Maßnahmen alle Menschen in Berlin erreichen. Es gibt keine Unterschiede zwischen türkischen Eltern und deutschen Eltern.

Geht es beim Thema Gewaltprävention auch um Identität und Identitätskonflikte?

Selbstverständlich. Wir stellen immer wieder fest, dass Menschen, deren Identität nicht gefestigt ist, mehr auffallen können oder aufgefallen sind, weil da ein Wir-Gefühl fehlt. Und wir wollen alle einladen, um gemeinsam ein Wir-Gefühl zu entwickeln.

Aber wie macht man das?

Indem wir in die Bildungseinrichtungen gehen, in die Jugend- und Kinderklubs, um mit den jungen Menschen, die gefährdet sind, gemeinsam an der Identitätsförderung und Identitätsentwicklung zu arbeiten und ihnen Mut zu machen. Wir bieten diesen jungen Menschen die Möglichkeiten und die Chancen, mit Vorbildern ins Gespräch zu kommen, um Mut und Selbstbewusstsein aufzutanken. Diese Vorbilder haben studiert, üben wunderbare Berufe aus oder sind erfolgreiche Unternehmer geworden.

Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner hat im einem rbb-Interview gesagt, die Angriffe gegen Polizistinnen, Polizisten, Feuerwehrleute, Sanitäter sind Angriffe auf unsere Form des Zusammenlebens. Stimmen Sie dem zu?

Ich stimme dem nicht zu. In Gesprächen mit jungen Menschen und deren Eltern wurde mir gesagt, dass das spontane Entwicklungen und Ergebnisse gruppendynamischer Prozesse sind. Das war nicht organisiert gegen unsere Lebensformen oder gegen den deutschen Staat. Man muss sich näher mit den Gründen beschäftigen. Darauf gibt es auch keine pauschale Antwort. Und wir sollten gemeinsam lernen, mit Werten und Normen der hiesigen Gesellschaft adäquat umzugehen – das ist eine Einladung, die wahrscheinlich eher angenommen wird, als auszugrenzen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Wolf Siebert. Der Text ist eine redigierte, gekürzte Fassung.

 

Sendung: rbb24 Inforadio, 03.01.2024, 14:25 Uhr

Beitrag von Wolf Siebert

44 Kommentare

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  1. 44.

    Auch Neukölln hat eine freiwillige Feuerwehr. Wie wäre es mal mit einer gemeinsamen Jugendprojektarbeit? Wo sind überhaupt die Orte, wo Jugendliche mit bio- und nichtdeutschen Wurzeln mal GEMEINSAM etwas machen, gestalten, planen, genießen? Gibt es Widerstände? Dann sollten sie klar benannt werden als erster Schritt, um sie zu überwinden.

  2. 43.

    Respekt meine Lieben kann man nicht anerziehen, den erwirbt man sich. Verhalte ich mich meinen Kindern gegenüber respektvoll werden diese sich auch respektvoll verhalten denn Kinder lernen vor allem durch Nachahmung.
    Respekt der eingefordert wird ist Arroganz der Erwachsenen/vermeintlich "besseren" gegenüber Schwächeren. Es lebe der deutsche Untertanengeist!
    Mal davon abgesehen davon dass man sich schon vor 5000 Jahren über Jugendliche aufgeregt hat... Wo werden in dieser Gesellschaft Kinder und Jugendliche respektvoll behandelt? Kleine Paschas ist jedenfalls nicht respektvoll.
    Im Nachkriegsdeutschland gab es übrigens durchaus auch Männer die als männliches Vorbild dienen konnten. Und auch damals gab es genügend Jugendliche die nicht in die Normen passten, verarbeitet in Filmen, im Roman Deutschstunde usw.

  3. 42.

    Stimmt. Die drei festgenommenen Täter sind alt genug und selbst verantwortlich. Falsche Erziehung und das Verhaftetsein in überkommenen Traditionen können nicht auf ewig alles entschuldigen. Wer Respekt für sich selbst einfordert, muss ihn auch anderen zollen.

  4. 41.

    Wieviel Kinder sind früher ohne Väter aufgewachsen und nicht im Chaos versunken??? Hier wird doch nur nach Begründungen für das völlige versagen der Elternhäuser und der Schulen gesucht. Das Ganze versucht man dan wissenschaftlich zu begründen.

  5. 40.

    Ich hatte Mutter und Vater und das ist auch gut so. Ich glaube aber nicht, daß das die Voraussetzung für ein gutes Miteinander ist. Irgendwann muss man auch selbst auf die richtige Idee kommen. Und die Täter von Silvester sind alt genug. Kein Vater, zuviel oder zu wenig Alkohol sind immer Ausreden.

  6. 39.

    Die Familie muss nicht nachkommen, denn das „Dorf“ ist bereits hier. Nur beteiligt es sich leider nicht immer. Ich denke nur mal an die Nachricht, dass ca. 1.000 schulpflichtige Kinder nicht integriert werden, weil Willkommensklassen fehlen.

  7. 38.

    Respekt gegenüber Autoritäten lernt man in den Herkunftsländern doch mit als Erstes, an solcher "imortierter" Erziehung kann es eigentlich nicht liegen, dass einige hier freidrehen. Ich denke, es liegt an der oft antiautoritären Erziehung "überforderter" alleinerziehender Mütter, die ihren Kindern vieles einfach durchgehen lassen, wo der Vater längst eingeschritten wäre.

  8. 37.

    „Man braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen.“
    Da wir den Familiennachzug nicht auf ganze Dörfer ausweiten werden können, sollten wir die Verantwortung für die Erziehung weiterhin nicht delegieren, sondern in der Kernfamilie belassen. Kinder brauchen Struktur im (Erziehungs-)Leben und viele Köeche verderben dann einfach den Brei, um mal noch ein weiteres Sprichwort zweckzuentfremden.

  9. 36.

    Mütter sind implizit für die Gewaltbereitschaft der Söhne verantwortlich, wenn sie ein traditionelles Rollenbild an sie weitergeben. Väter, die das tun, sind natürlich gleichermaßen verantwortlich. Deshalb versucht man ja den Vätern klar zu machen, dass sie ihr Rollenverständnis den aktuellen Gegebenheiten anpassen müssen. Aber Mütter müssen dies eben auch. Nur hat Herr Erdogan eben keine Müttergruppe eröffnet, sondern eine für Väter.

  10. 35.

    Ja, stimmt. Respekt kann einem jeder beibringen. Aber es gibt nunmal in dieser Welt Frauen UND Männer und ich finde, alle sollten an der Erziehung beteiligt sein.
    Als Feministin war ich übrigens lange Zeit davon überzeugt, dass man keinen Mann braucht, um ein Kind großzuziehen. Frau kann schließlich alles schaffen. Mein Kind war allerdings anderer Ansicht und inzwischen habe ich meine Sicht auch erweitert. In Afrika sagt man zu Recht: „Man braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen.“

  11. 34.

    Es ist wichtig, was augeklammert wird, nämlich die Bedeutung von Müttern. Sie werden hier implizit für die Gewaltbereitschaft ihrer Söhne mitverantwortlich gemacht, weil sie den Vater nicht ersetzen können. Und das ist eine sehr spezielle Sichtweise. Ich bezweifel auch stark, dass es sich v. a. um Jugendliche handelt wo der Vater fehlt. Im Interview kommt ja auch zur Sprache, wie gewalttätig die Erziehungsmethoden der Väter sind, wenn sie darauf hingewiesen werden müssen, dass in Deutschland anders erzogen wird.

  12. 33.

    Und warum fehlt der männliche Part, wenns von dem ausgeht. Es geht um Respekt. Und der wird nunmal nicht jedem gegenüber beigebracht oder gelernt.

  13. 32.

    Ja, Frauen können sehr viel zustande bringen und ihre Leistungen werden auch heutzutage oft nicht angemessen gewürdigt. Aber darum geht es im Interview nicht, sondern eher darum, in welchem Maße Erziehung dafür verantwortlich ist, dass Jugendliche sich gegenüber Polizei und Rettungskräften unangemessen verhalten.

  14. 31.

    „ Wir kommen mit den Vätern ins Gespräch, indem wir sagen, die Erziehungsmethoden, die in Anatolien oder in vielen arabischen Ländern galten, gelten hier nicht mehr.“
    Ganz genau so ist es, also haben die Eltern versagt!
    Wir brauchen eindeutig mehr solcher Menschen, wie diesen Mann!

  15. 30.

    In einer Kultur, wo der Egoismus vorherrscht, wird es in Zukunft wahrscheinlich nicht besser.

  16. 29.

    Diese Meisterleistung wurde von unglaublich vielen Müttern vollbracht. Sie haben in Abwesenheit ihrer Männer auch gearbeitet, viele schon vor dem Krieg, fast alle während und vor allem nach dem Krieg und gleichzeitig Kinder großgezogen. Ich sehe hier den enormen kulturellen Unterschied in der Anerkennung dessen, was Frauen zu leisten imstande sind und ihnen dafür den nötigen Respekt zu zollen. Alle Menschen sind gleich.

  17. 28.

    Viele, die hier daran erinnern, dass es nach 1945 auch viele alleinerziehende Mütter gab, haben offenbar vergessen, dass sich 1968 und danach vielen Nachkriegskinder vom damals vorherrschenden Wertesystem verabschiedet haben.

  18. 27.

    Ihre Mutter war eben eine starke und selbstbewusste Frau. Mütter, die von Kind an von den eigenen Verwandten unterdrückt oder auf Rollen festgelegt wurden, sind nicht immer so.

  19. 26.

    Ich bin kein Fan von diesen verträumten Rückblicken in vorhergehende Generationen aber hier ging mir das leider ebenso durch den Kopf. Nach der Theorie hätte halb Europa nach dem Weltkrieg ja durch Jungen ohne männliches Vorbild im Chaos versinken müssen. So viele Väter sind im Krieg geblieben und die Frauen haben ihre Kinder allein aufziehen und dazu noch das Land wieder aufbauen müssen. Und dennoch hatten die früheren Generationen ein anderes Werteverständnis, als man es heute häufig vorfindet. Und nein, ich bin nicht Teil dieser Generation. Durchaus aber meine Großeltern und Eltern.

  20. 25.

    Ich meinte natürlich ihr Stigma kompensieren zu müssen, nicht beweisen!

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