Cannabis in der Medizin - Wenn Tabletten nicht mehr gegen den Schmerz helfen

Mi 22.05.24 | 06:28 Uhr | Von Carl Winterhagen und Christina Rubarth
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Mitarbeiter des Cannabis-Unternehmens Cantourage führen am 11.04.2024 eine manuelle abschließende Qualitätskontrolle an Cannabis-Blüten durch. (Quelle: dpa-Bildfunk/Daniel Karmann)
Video: rbb24 Abendschau | 22.05.2024 | Studiogespräch Fr. Dr. Landgraf (Ärztekammer Berlin) | Bild: dpa-Bildfunk/Daniel Karmann

Viele alte Menschen könnten medizinisches Cannabis zur Schmerzlinderung nutzen. Aber die Hürden zur Verschreibung sind auch nach der Legalisierung hoch, und die Skepsis gegenüber dem Stoff ist noch längst nicht verschwunden. Von Carl Winterhagen und Christina Rubarth

Doris Habich aus Berlin-Marzahn litt über Jahre unter chronischen Fußschmerzen. "Ich habe es teilweise gar nicht mehr ausgehalten. Alle anderen haben Spaziergänge gemacht, ich bin zu Hause geblieben", erzählt die 79-Jährige. Tabletten halfen ihr nicht mehr, und immer wieder wurde sie nachts wach von ihren Schmerzen.

Damit gehört Habich zu den 14 Prozent Deutschen über 65 Jahren, die laut einer Untersuchung des Robert-Koch-Instituts unter chronischen Schmerzen leiden. Die gängigen Mittel dagegen sind Schmerztabletten- oder -pflaster, die häufig mit Nebenwirkungen verbunden sind oder auch abhängig machen können – und die mit der Zeit immer weniger wirksam sind.

Doris Habich im Mai 20424. (Quelle: rbb/Winterhagen)
Doris Habich aus Berlin-Marzahn litt über Jahre unter chronischen Fußschmerzen. | Bild: rbb/Winterhagen

Hausärztin blockte ab

Seit 2017 kann in solchen Fällen auch Cannabis eingesetzt werden - legal von Ärztinnen und Ärzten verschrieben. Es kommt zum Einsatz bei Schmerzpatienten, chronisch Kranken und Palliativpatienten und kann schmerzlindernd und stimmungsaufhellend wirken. Auch bei Multipler Sklerose und Anorexie wird Cannabis eingesetzt. Verabreicht wird es in der Regel als Tropfen, Kapseln oder seltener als Blüten – in ganz kleinen Dosen, viel zu wenig, um davon high zu werden.

Das wusste auch Doris Habichs Enkel. Er brachte seine Oma auf die Idee, es mit medizinischem Cannabis zu probieren. Doch als Habich ihre Hausärztin danach fragte, blockte die ab. "Die ist gar nicht darauf eingegangen", sagt die Rentnerin.

Über eine Telemedizin-Plattform, die sich auf medizinisches Cannabis spezialisiert hat, bekam Habich schließlich ein Privatrezept. Seit über einem Jahr nimmt sie nun kleine Dosen zerbröselter Blüten mit einem Verdampfer zu sich. Seitdem haben sich ihre Schmerzen gebessert und sie kann nachts wieder gut schlafen - sehr zu ihrer Erleichterung.

In ihrer Umgebung löste die neue Medikation zunächst Unverständnis aus: "Erstmal wurde ich verlacht: 'Was machst du denn? Jetzt kiffst du!' Dann habe ich erklärt, dass es schmerzlindernd ist, und jetzt wissen alle Bescheid."

Weniger Schmerzmittel, bessere Lebensqualität

Die Erfahrungen von Doris Habich bestätigen die Studienergebnisse von Knud Gastmeier. Der Potsdamer Arzt forscht seit Jahren zu Cannabis als Medikament. 2019 untersuchte er den Einsatz von medizinischem Cannabis bei geriatrischen Schmerzpatienten und fand heraus: Durch den Einsatz von medizinischem Cannabis können ältere Patienten teilweise auf Opioide, häufig eingesetzte Schmerzmittel, verzichten. "Das ist ein immenser Gewinn, gerade für geriatrische Patienten, die dadurch wesentlich mehr Selbstständigkeit, eine bessere Schmerzlinderung und mehr Lebensqualität haben", sagt Gastmeier.

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte kommt zu ähnlichen Schlüssen wie der Arzt aus Potsdam. 2022 schreibt es in einer Erhebung, dass sich bei drei Vierteln der mit Cannabis behandelten Patienten die Symptome gebessert hätten. Allerdings wirke es eben nicht bei allen. Die Studienlage ist derzeit noch recht dünn, vor allem mangelt es an Langzeituntersuchungen.

Knud Gastmeier im Mai 20424. (Quelle: rbb/Winterhagen)Der Potsdamer Arzt Gnud Gastmeier forscht zu Cannabis als Medikament.

Steigende Nachfrage – nicht erst seit der Legalisierung

Medizinisches Cannabis liegt im Trend, das hat sich schon vor der Teil-Legalisierung im April 2024 abgezeichnet. Die Verordnungen sind laut dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen in den vergangenen Jahren stetig gestiegen.

2022 wurden rund 390 Tausend Cannabis-Arzneimittel und -Zubereitungen verordnet. Dazu kommen Schätzungen zufolge noch einmal so viele Privatrezepte wie das von Doris Habich, bei denen die Patienten die Kosten selbst tragen.

Bevor man über die Krankenkasse an medizinisches Cannabis kommt, muss mit dem Arzt oder der Ärztin ein langer Antrag ausgefüllt werden, in dem abgefragt wird, ob man es schon mit gängigen Schmerzmitteln und Therapien versucht hat. "Erst dann hat man eventuell die Chance, dass die Krankenkasse zusagt, dass man einen Versuch mit Cannabis machen kann", sagt Anne Gastmeier, Ärztin und Schmerztherapeutin aus Kleinmachnow.

Das negative Image bleibt

An der Verschreibungspraxis hat sich auch mit der Teil-Legalisierung nichts geändert. Aber seit April gilt medizinisches Cannabis nicht mehr als Betäubungsmittel, sodass man es nun über ein normales Rezept bekommen kann.

Theoretisch können Patienten das medizinische Cannabis über jede Apotheke beziehen, allerdings bieten es nicht alle von sich aus an. Die Nachfrage sei seit April noch einmal gestiegen, berichtet Patricia Christl, Apothekerin aus Berlin. In ihrer Apotheke in Charlottenburg hat sie sich schon vor einigen Jahren auf medizinisches Cannabis spezialisiert. "Wir haben Mitarbeiter, die nur damit beschäftigt sind, Patienten mit medizinischem Cannabis zu betreuen", sagt Christl. Die Cannabis-Mittel müssen in der Apotheke geprüft, dokumentiert und für die Patienten umverpackt werden.

Allerdings sind offenbar längst nicht alle Apotheken oder Arztpraxen offen für den Einsatz von medizinischem Cannabis. "Es gibt Apotheken und Ärzte, die wollen nichts mit Cannabis zu tun haben. Ich glaube, dass da auch ein negatives Image mitschwingt", meint Christl. "Aber das muss jeder für sich selbst entscheiden."

Zurückhaltung bei Senioreneinrichtungen

Auf Anfrage von rbb|24 bei verschiedenen Senioreneinrichtungen reagieren viele sehr zurückhaltend auf das Thema Cannabis: Man stehe dafür nicht zur Verfügung, heißt es, oder: "Wir haben keine Erfahrungen mit Cannabis in unserem Haus."

Bei Knud Gastmeier stößt das auf Unverständnis: "Die hätten einen Gewinn", sagt der Arzt. "Aber die Meinungsbildner in dem Bereich sind voreingenommen gegenüber Cannabis, weil sie keine Erfahrungen haben."

Die Direktorin der Diakonie Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Ursula Schoen, zeigt sich offen für den Einsatz von Cannabis in Alten- und Pflegeheimen - ob zu medizinischen Zwecken oder nicht: "Ich bin fest davon überzeugt, dass das Alter ein Recht hat, eine lustvolle und gelingende Zeit zu sein. Und wenn dazu gelegentlich ein Joint oder ein Glas Wein gehört, dann finde ich das angemessen." Die 68er-Generation, die in ihrer Jugend Erfahrungen mit Cannabis gemacht haben, komme nun in ein Alter, in dem Menschen vereinzelt in Alten- und Pflegeheime ziehen.

Die Geriatrie müsse sich bei diesem Thema mehr öffnen, meint Gastmeier: Der Gewinn könne groß sein.

Sendung: rbb24 Inforadio, 23.05.2024, 6:00 Uhr

Beitrag von Carl Winterhagen und Christina Rubarth

14 Kommentare

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  1. 14.

    Warum überdenkt man hier nicht einen Off-Label-Use? Bei der Frage der Studien könnte man in Israel anfragen, die haben sehr sehr lange Erfahrungen bzgl Cannabis und Senioen.
    Sonst enden wir doch in der 2-Klassen Medizin . Wer es sich leisten kann hat Glück.
    Das Genehmigungsprocedere ist eh ungeheuerlich ! Erst jede mögliche Chemie testen? Was soll das? ( ich selbst bin seit 20017
    Und den Senioren kann man ja - wie es leider noch zu oft passiert- nicht unterstellen, sie wollten nur kiffen.

  2. 13.

    Ja, genau,die Begleitstoffe sind wichtig und sorgen für eine optimale Wirksamkeit.

  3. 12.

    Ich möchte später nicht Opiate nehmen müssen, wenn eigentlich schon Cannabis helfen würde. Und an den ersten Foristen eine direkte Anmerkung: was bezeichnen Sie denn als eindeutige Indikation? Wahrscheinlich sind diverse Patienten vorher schon durch eine schmerzhafte Hölle gegangen, bevor ihnen die Zustimmung zu Cannabis gegeben wird. ich denke, Sie würden Ihre Meinung sehr schnell ändern, wenn Sie chronische Schmerzen haben würden. Solange man noch nie etwas damit zu tun hatte, lässt es sich leicht reden.

  4. 11.


    Wenn Cannabis kann helfen, wo pharmazeutischen Produkte bereits versagen, scheinen diese (teuren) Mittel ein Umweg zu sein.

    Warum wird diesen Produkten trotzdem der Vorrang gegenüber Cannabis eingeräumt und den Leidenden der Zugang zum Cannabis mit überbordender Bürokratie erschwert, anstatt ihn zu erleichtern?

    Ist dieser Unsinn auf den Einfluß der Pharmaindustrie auf die Politik zurückzuführen?

  5. 10.

    Unsere Mama isst zum Frühstück und zum Kaffee einen selbstgebackenen Keks gegen ihre Schmerzen und für die gute Laune. Ihr Hydromorphon konnte sie damit fast komplett absetzen. Jetzt kann sie die Kekse auch mitnehmen, ohne kriminell zu werden.

  6. 9.

    ""Gute" Ärzte haben eine gesunde Skepsis gegenüber ALLEN Wirkstoffen !"

    Darum geht es hier aber überhaupt nicht, denn Cannabis kann erst dann eingesetzt und verschrieben werden, wenn vorher etwas anderes nicht genug geholfen hat.

    "Bevor man über die Krankenkasse an medizinisches Cannabis kommt, muss mit dem Arzt oder der Ärztin ein langer Antrag ausgefüllt werden, in dem abgefragt wird, ob man es schon mit gängigen Schmerzmitteln und Therapien versucht hat. "Erst dann hat man eventuell die Chance, dass die Krankenkasse zusagt, dass man einen Versuch mit Cannabis machen kann", sagt Anne Gastmeier, Ärztin und Schmerztherapeutin aus Kleinmachnow."

  7. 8.

    Ich könnte mir vorstellen, dass es eine starke Pharma-Lobby gibt, die gegen Cannabis alle möglichen Geschütze auffährt. An Opioiden kann man immerhin, über die Verkaufsmenge, sehr gut verdienen. Einfach in der Herstellung und eine große Gewinnspanne.
    Und meine Güte, wenn eine über 80jährige Cannabis lieber als andere Schmerzmittel nehmen will, warum nicht. Immer dieses Bevormunden von alten Menschen finde ich furchtbar.

  8. 7.

    Ein interessanter Beitrag. Ich leide an chronischer Arthrose und jetzt habe ich wohl noch einen kleinen aber schmerzhaften bandscheibenvorfall bekommen.
    Ich werde auf jeden Fall mein Orthopäden darauf ansprechen.
    Das ist echt mal ein Bericht den man umsetzen kann.

  9. 6.

    Es ist schon traurig zu lesen, dass Patienten mit chronischen Schmerzen anscheinend z.T. sehr viel kämpfen müssen, um wirklich Hilfe zu erhalten. Hätte Doris Habich nicht ihren Enkel gehabt, wäre sie vermutlich nicht mal auf die Idee gekommen, ihre Hausärztin nach Cannabis zu fragen. Und wenn die Ärztin dort nicht auf den Vorschlag eingeht oder ihr etwas dazu sagt, finde ich das schon traurig. So werden dann die Menschen im Regen stehen gelassen und wirksame Hilfe bekommen sie nur, wenn sie hartnäckig bleiben. Hoffentlich ändert sich das Image von Cannabis bei chronischen Schmerzen sehr schnell bei vielen Ärzten. Denn ich denke wirklich, dass es ein Imageproblem ist.

  10. 5.

    Lassen Sie sich beraten, welche C-Sorte(n) für Sie besonders passen würden und gärtnern Sie Ihre 3 Pflanzen an.

    Traurig, dass das so läuft, aber Selbsthilfe ist immerhin Hilfe.

  11. 4.

    Aber sie hat keine Skepsis, Pharma-Nachahmerpräparate mit Nebenwirkungen zu verschreiben, die noch dazu eben nicht so effektiv waren. Kein "hoch" auf dieses Vorgehen.

    Die Pharmaindustrie ahmt Stoffe aus der Natur nach, nur kann sie es nicht so, wie die Natur. ZB Cannabis hat weit mehr Inhaltsstoffe/Wirkstoffe, als so ein nachgebautes Schmerzpflaster.

    Jeder, dem im KH bei Schmerzen die "Schmerztropfen" nicht geholfen haben, weiß, was gemeint ist. Auch dort muss Pat. um wirksame Naturprodukte wie Opioide kämpfen.

  12. 3.

    so nen Quatsch
    Cannabis ist eine Jahrtausend alte Medizin und das bereits häufig in Studien belegt worden. Denke Pillen sind auch nicht besser als ein unbehandeltes Kraut zu pflücken. Wahrscheinlich die gleichen Argumente wie die Alkohol Lobby auch gegen Cannabis hat.

  13. 2.

    Ich leider seit 4 Jahren nach einer WBS OP an einem Nervenschaden im Bein. Medizinisches Cannabis würde abgelehnt, darf mich mit Opiaten Vollpumpen um meinen Tag zu überstehen u als Erzieherin arbeiten zu können. Es wird Zeit das es beim medizinischen Dienst mal gelockert wird. Bin nicht der Meinung, das Menschen unter Schmerzen leiden müssen, zumal Opiate nicht die Lösung sind für den Körper.

  14. 1.

    Mal entgegen der Fern-Diagnose von Hernn Dr. Winterhagen und Frau Prof. Rubarth: Ein HOCH auf die Hausärztin !

    "Gute" Ärzte haben eine gesunde Skepsis gegenüber ALLEN Wirkstoffen !

    Das gilt glücklicherweise mittlerweile für Antibiotika, und der Stimmungsverstärker "Cannabis" sollte eben auch nur verordnet werden, wenn die Indikation eindeutig ist.

    Aus lediglich etwas weniger besuchten, leicht einsamen Senioren künftige Dauerpatienten für Psychotherapien mit Depressionen bishin zu suizidalen tendenzen zu machen hilft ja schliesslich auch niemandem.

    Immerhin darf der Enkel ja nun 3 Pflanzen ziehen und sich gemeinsam mit Omi einen aus Eigenanbau durchziehen, selbst wenn Ärzte dringend davon abraten sollten, sofern diesbezüglich überhaupt nochmal konsultiert.

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