Cannabis in der Medizin - Wenn Tabletten nicht mehr gegen den Schmerz helfen
Viele alte Menschen könnten medizinisches Cannabis zur Schmerzlinderung nutzen. Aber die Hürden zur Verschreibung sind auch nach der Legalisierung hoch, und die Skepsis gegenüber dem Stoff ist noch längst nicht verschwunden. Von Carl Winterhagen und Christina Rubarth
Doris Habich aus Berlin-Marzahn litt über Jahre unter chronischen Fußschmerzen. "Ich habe es teilweise gar nicht mehr ausgehalten. Alle anderen haben Spaziergänge gemacht, ich bin zu Hause geblieben", erzählt die 79-Jährige. Tabletten halfen ihr nicht mehr, und immer wieder wurde sie nachts wach von ihren Schmerzen.
Damit gehört Habich zu den 14 Prozent Deutschen über 65 Jahren, die laut einer Untersuchung des Robert-Koch-Instituts unter chronischen Schmerzen leiden. Die gängigen Mittel dagegen sind Schmerztabletten- oder -pflaster, die häufig mit Nebenwirkungen verbunden sind oder auch abhängig machen können – und die mit der Zeit immer weniger wirksam sind.
Hausärztin blockte ab
Seit 2017 kann in solchen Fällen auch Cannabis eingesetzt werden - legal von Ärztinnen und Ärzten verschrieben. Es kommt zum Einsatz bei Schmerzpatienten, chronisch Kranken und Palliativpatienten und kann schmerzlindernd und stimmungsaufhellend wirken. Auch bei Multipler Sklerose und Anorexie wird Cannabis eingesetzt. Verabreicht wird es in der Regel als Tropfen, Kapseln oder seltener als Blüten – in ganz kleinen Dosen, viel zu wenig, um davon high zu werden.
Das wusste auch Doris Habichs Enkel. Er brachte seine Oma auf die Idee, es mit medizinischem Cannabis zu probieren. Doch als Habich ihre Hausärztin danach fragte, blockte die ab. "Die ist gar nicht darauf eingegangen", sagt die Rentnerin.
Über eine Telemedizin-Plattform, die sich auf medizinisches Cannabis spezialisiert hat, bekam Habich schließlich ein Privatrezept. Seit über einem Jahr nimmt sie nun kleine Dosen zerbröselter Blüten mit einem Verdampfer zu sich. Seitdem haben sich ihre Schmerzen gebessert und sie kann nachts wieder gut schlafen - sehr zu ihrer Erleichterung.
In ihrer Umgebung löste die neue Medikation zunächst Unverständnis aus: "Erstmal wurde ich verlacht: 'Was machst du denn? Jetzt kiffst du!' Dann habe ich erklärt, dass es schmerzlindernd ist, und jetzt wissen alle Bescheid."
Weniger Schmerzmittel, bessere Lebensqualität
Die Erfahrungen von Doris Habich bestätigen die Studienergebnisse von Knud Gastmeier. Der Potsdamer Arzt forscht seit Jahren zu Cannabis als Medikament. 2019 untersuchte er den Einsatz von medizinischem Cannabis bei geriatrischen Schmerzpatienten und fand heraus: Durch den Einsatz von medizinischem Cannabis können ältere Patienten teilweise auf Opioide, häufig eingesetzte Schmerzmittel, verzichten. "Das ist ein immenser Gewinn, gerade für geriatrische Patienten, die dadurch wesentlich mehr Selbstständigkeit, eine bessere Schmerzlinderung und mehr Lebensqualität haben", sagt Gastmeier.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte kommt zu ähnlichen Schlüssen wie der Arzt aus Potsdam. 2022 schreibt es in einer Erhebung, dass sich bei drei Vierteln der mit Cannabis behandelten Patienten die Symptome gebessert hätten. Allerdings wirke es eben nicht bei allen. Die Studienlage ist derzeit noch recht dünn, vor allem mangelt es an Langzeituntersuchungen.
Steigende Nachfrage – nicht erst seit der Legalisierung
Medizinisches Cannabis liegt im Trend, das hat sich schon vor der Teil-Legalisierung im April 2024 abgezeichnet. Die Verordnungen sind laut dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen in den vergangenen Jahren stetig gestiegen.
2022 wurden rund 390 Tausend Cannabis-Arzneimittel und -Zubereitungen verordnet. Dazu kommen Schätzungen zufolge noch einmal so viele Privatrezepte wie das von Doris Habich, bei denen die Patienten die Kosten selbst tragen.
Bevor man über die Krankenkasse an medizinisches Cannabis kommt, muss mit dem Arzt oder der Ärztin ein langer Antrag ausgefüllt werden, in dem abgefragt wird, ob man es schon mit gängigen Schmerzmitteln und Therapien versucht hat. "Erst dann hat man eventuell die Chance, dass die Krankenkasse zusagt, dass man einen Versuch mit Cannabis machen kann", sagt Anne Gastmeier, Ärztin und Schmerztherapeutin aus Kleinmachnow.
Das negative Image bleibt
An der Verschreibungspraxis hat sich auch mit der Teil-Legalisierung nichts geändert. Aber seit April gilt medizinisches Cannabis nicht mehr als Betäubungsmittel, sodass man es nun über ein normales Rezept bekommen kann.
Theoretisch können Patienten das medizinische Cannabis über jede Apotheke beziehen, allerdings bieten es nicht alle von sich aus an. Die Nachfrage sei seit April noch einmal gestiegen, berichtet Patricia Christl, Apothekerin aus Berlin. In ihrer Apotheke in Charlottenburg hat sie sich schon vor einigen Jahren auf medizinisches Cannabis spezialisiert. "Wir haben Mitarbeiter, die nur damit beschäftigt sind, Patienten mit medizinischem Cannabis zu betreuen", sagt Christl. Die Cannabis-Mittel müssen in der Apotheke geprüft, dokumentiert und für die Patienten umverpackt werden.
Allerdings sind offenbar längst nicht alle Apotheken oder Arztpraxen offen für den Einsatz von medizinischem Cannabis. "Es gibt Apotheken und Ärzte, die wollen nichts mit Cannabis zu tun haben. Ich glaube, dass da auch ein negatives Image mitschwingt", meint Christl. "Aber das muss jeder für sich selbst entscheiden."
Zurückhaltung bei Senioreneinrichtungen
Auf Anfrage von rbb|24 bei verschiedenen Senioreneinrichtungen reagieren viele sehr zurückhaltend auf das Thema Cannabis: Man stehe dafür nicht zur Verfügung, heißt es, oder: "Wir haben keine Erfahrungen mit Cannabis in unserem Haus."
Bei Knud Gastmeier stößt das auf Unverständnis: "Die hätten einen Gewinn", sagt der Arzt. "Aber die Meinungsbildner in dem Bereich sind voreingenommen gegenüber Cannabis, weil sie keine Erfahrungen haben."
Die Direktorin der Diakonie Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Ursula Schoen, zeigt sich offen für den Einsatz von Cannabis in Alten- und Pflegeheimen - ob zu medizinischen Zwecken oder nicht: "Ich bin fest davon überzeugt, dass das Alter ein Recht hat, eine lustvolle und gelingende Zeit zu sein. Und wenn dazu gelegentlich ein Joint oder ein Glas Wein gehört, dann finde ich das angemessen." Die 68er-Generation, die in ihrer Jugend Erfahrungen mit Cannabis gemacht haben, komme nun in ein Alter, in dem Menschen vereinzelt in Alten- und Pflegeheime ziehen.
Die Geriatrie müsse sich bei diesem Thema mehr öffnen, meint Gastmeier: Der Gewinn könne groß sein.
Sendung: rbb24 Inforadio, 23.05.2024, 6:00 Uhr