Interview | Welttag des Stotterns - "Es hilft, einen selbstbewussten Umgang mit dem eigenen Stottern zu entwickeln"

Di 22.10.24 | 10:17 Uhr
Symbolbild: Ein Kind bei einem Logopädetermin. (Quelle: IMAGO/Pond5 )
IMAGO/Pond5
Audio: rbb|24 | 22.10.2024 | O-Ton aus dem Gespräch mit Tobias Haase | Bild: IMAGO/Pond5

Stottern ist auch heute noch schambehaftet und tabuisiert. Denn stotternde Menschen gelten zu Unrecht als weniger intelligent, nervös und schüchtern. Tobias Haase, der bei einem Beratungszentrum arbeitet und selbst stottert, berichtet.

rbb|24: Hallo, Herr Haase. Wie kommt es dazu, dass ein Mensch stottert beim Sprechen?

Tobias Haase: Die Frage zielt ja auf die Ursachen des Stotterns ab. Diese sind, das ist mittlerweile relativ klar, hirnorganischer Natur. Das Problem ist letzten Endes im Gehirn verankert. Man weiß aus Forschungsergebnissen, dass bestimmte Regionen und bestimmte Nervenfasern im Gehirn – die, die die Sprechmotorik steuern – schwächer ausgeprägt oder auch störanfälliger sind als bei Flüssigsprechern.

Dann kann man auch noch fragen, warum jemand plötzlich anfängt zu stottern - also nach dem Auslöser. Da ist noch völlig unklar, ob es einen geben muss und es immer einen gibt.

Zur Person

Portrait: Tobias Haase. (Quelle: privat)
privat

Mitarbeiter Beratungsstelle - Tobias Haase

Tobias Haase, geboren und aufgewachsen in Brandenburg, stottert seit seinem dritten Lebensjahr. Der Diplom-Biochemiker ist aktiv in der Selbsthilfe und engagiert sich derzeit beim "Sprechraum" in Berlin-Charlottenburg.

Fängt das Stottern bei den meisten Menschen im Kindesalter an? Und gibt es eine Art genetische Disposition dafür?

Stottern fängt in den allermeisten Fällen im Kindesalter, also während der Sprachentwicklung, an. Etwa im Alter zwischen zwei und vier Jahren geht das los. Es ist auch gar nicht so selten. Etwa fünf Prozent aller Kinder zeigen Phasen des Stotterns.

Und ja, es gibt eine genetische Veranlagung für das Stottern. Das ist mittlerweile aus Zwillingsstudien relativ gut belegt.

Neben dem bisher besprochenen Stottern gibt es auch noch Stottern nach Unfällen, nach Schlaganfällen, Gehirnverletzungen oder auch psychische Traumata. Es gibt auch Stottern, das mit anderen Syndromen, wie zum Beispiel Trisomie 21, verbunden ist.

Gibt es auch verschiedene Arten des Stotterns?

Man kann es in unterschiedliche Kategorien zusammenfassen, wenn man sich die Symptomatik des Stotterns anschaut. Grundsätzlich kann man aber sagen, dass keine zwei Stotternden auf die gleiche Art und Weise stottern. Es gibt allerdings durchaus bestimmte Merkmale, die Stotternde gemeinsam haben. Das sind die Dehnungen von Lauten, die Dehnungen oder Wiederholungen von Silben oder meistens stumme Blockaden.

Kann und sollte man das Stottern behandeln? Und wenn ja wie und wie schnell?

Bei Kindern würde ich sagen, sollte man es auf jeden Fall behandeln. Bei Erwachsenen hängt das sicherlich auch vom Leidensdruck ab. Da ist es eine individuelle Entscheidung.

Warten sollte man nicht allzu lange. Früher hat man immer gesagt, man wartet ab, es wächst sich vielleicht aus. Das stimmt auch in vielen Fällen. Aber wir wissen nicht, bei wem das wieder verschwindet. Wenn sich die Symptomatik verstärkt oder verschärft, wenn das Kind die Sprechfreude verliert, wenn es sich zurückzieht, wenn es weniger spricht und anfängt Situationen oder das Sprechen zu vermeiden, sollte man schnell zum Logopäden oder zur Logopädin gehen.

Apropos Leidensdruck: Ist das Stottern für die meisten Betroffenen psychisch belastend?

Für die meisten schon, denke ich. Der Leidensdruck entsteht durch die negative Reaktion der Zuhörer. Die erlebt fast jeder Stotternde in seiner Kindheit und in seinem Leben. Also dass das Umfeld negativ reagiert: mit Ablehnung, mit Zurückweisung und damit, dass man einfach nicht verstanden wird. Viele entwickeln dann im Laufe der Zeit eine Sprechangst. Man schämt sich für das Stottern. Das kann zu sozialem Rückzug führen und man weiß aus Studien auch, dass Stotternde eine höhere Wahrscheinlichkeit für soziale Phobien haben.

Ist Stottern denn auch heute noch schambehaftet und tabuisiert?

Ja, auf jeden Fall. Sowohl von den Betroffenen selbst – viele reden nicht gerne drüber oder versuchen es zu verstecken, als auch von der Gesellschaft. Da gibt es noch viele Vorurteile wie dass Stotternde weniger Intelligent seien, besonders nervös oder aufgeregt seien. Oder, wenn jemand nicht gleich antwortet, gilt derjenige als zurückhaltend und schüchtern.

Wenn sich jemand dann behandeln lässt – ist das Stottern heilbar?

Im Kindesalter ja. Von den erwähnten fünf Prozent aller Kinder, die stottern, verlieren es etwa 80 Prozent auch wieder. Als Erwachsener ist es dann nicht mehr heilbar, aber behandelbar. Die Symptomatik, mit der man irgendwann gestartet ist, muss nicht für den Rest des Lebens so bleiben. Man kann mit Hilfe von Logopäden oder Selbsthilfegruppen daran arbeiten.

Stotternde stottern beim Singen nicht. Man weiß noch nicht ganz genau, woran das liegt

Tobias Haase

Gibt es Empfehlungen für stotternde Menschen im Umgang mit der Welt. Z.B. für Telefongesprächen mit Fremden?

Ja: offen damit umgehen. Es hilft, einen selbstbewussten Umgang mit dem eigenen Stottern zu entwickeln. Es hilft in bestimmten Situationen auch, den Zuhörer darauf hinzuweisen, dass man stottert. Manchmal hilft es auch, sich das Recht zum Aussprechen einzufordern.

Was tut man am besten, wie Sie gerade als stotternder Mensch, wenn man im Gespräch hängenbleibt und nicht weiterkommt?

Einen allgemeingültigen Trick gibt es da leider nicht. Die meisten Stotternden merken kurz bevor ein Symptom auftritt, dass sie gleich stottern werden. Viele vermeiden dann die betreffenden Worte, stellen den Satz um oder verwenden ein Synonym. Das sind so die kleinen Tricks. Wenn es gut läuft, kann man auch eine Sprechtechnik verwenden, die einem über das Symptom hilft. Und mit einer gewissen Gelassenheit kann man auch einfach zu Ende stottern – das Symptom hält nicht ewig.

Gibt es Faktoren, die das Stottern bei den meisten Stotternden verstärken?

Ja, die gibt es. Allgemein handelt es sich dabei oft um Zeit- oder Sprechdruck, die aus einer Situation heraus entstehen. Es können Situationen sein, wo man ganz viel in ganz kurzer Zeit sagen will, was einen stresst. Oder es sind Situationen, wo es einem wichtig ist, dass die Information möglichst gut rüberkommt. Bei einem Vortrag, einem Vorstellungsgespräch, einem Gespräch mit dem Chef oder auch in einem Telefonat wo die gesamte Situationslast dann nur am Sprechen hängt.

Was hilft dem stotternden Menschen - also wie sollte sich das Gegenüber möglichst verhalten?

Wenn das Gegenüber einem die Sätze vollendet, wird das in den meisten Fällen als unhöflich empfunden. Man sollte stotternde Menschen, wie jeden anderen Menschen auch, ausreden lassen. Man sollte ein bisschen Geduld, ein bisschen mehr Zeit mitbringen und gern einen lockeren Blickkontakt halten. Eigentlich gelten die Regeln wie mit allen anderen Gesprächspartnern auch.

Stimmt es, dass viele Menschen, die stottern, problemlos singen können?

Ja, das stimmt. Stotternde stottern beim Singen nicht. Man weiß noch nicht ganz genau, woran das liegt. Man vermutet, dass das Rhythmische, das Melodische hilft, dass man nicht ins Stottern gerät. Singen wird aber auch, statt auf der linken auf der rechten Gehirnhälfte produziert. Und die linke ist die, die bei Stotternden schlechter ausgebildet ist.

Gibt es eigentlich gute Vorbilder für stotternde Menschen?

Die Darstellung von stotternden Menschen in Filmen ist teilweise problematisch. Sie werden da oft noch sehr stereotyp dargestellt. Also als die schüchternen, nicht so schlauen. Dort Vorbilder zu finden, ist eher schwierig. Da gibt es eher gute reale Vorbilder. Der aktuelle US-Präsident Joe Biden ist ja Stotternder und spricht auch offen darüber. Die Karriere, die er als Politiker hingelegt hat – mit seinem Stottern – ist doch schon ziemlich beeindruckend.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24

Sendung: Radioeins, 22.10.2024, 07:48 Uhr

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