Nach Silvesterkrawallen - Erste Gelder von Giffeys Jugendgewalt-Gipfel kommen an
20 Millionen in diesem und 70 Millionen im nächsten Jahr: Das war das Versprechen beim Gipfel gegen Jugendgewalt unter Rot-Grün-Rot. Dann hörte man lange nichts - doch jetzt gibt es Bewegung. Von Sebastian Schöbel
Der junge Mann mit dem strahlend weißen "Black Angel"-T-Shirt und dem großen Lächeln schaut etwas verlegen, als er das Mikrofon in die Hand nimmt und vor die versammelte Menge tritt. Aber Osman Nashiru hat sich vorbereitet auf diesen Moment: Der 17-Jährige holt einen Zettel raus und beginnt seine Rede – in einer Sprache, die er noch nicht sprechen konnte, als er vor neun Monaten auf verschlungenen Wegen und mit einem Boot über das Mittelmeer nach Deutschland kam. "Ich bin Osman, ich komme aus Ghana, und im Januar habe ich die Schule hier in der Schlesischen 27 begonnen."
Nachdem er gefühlt halb Kreuzberg gedankt hat, ruft Osman mit fester Stimme ins Publikum: "Brüder, ich weiß, es ist nicht leicht, morgens aufzuwachen und in die Schule zu kommen." Er erzählt, wie er einst selbst mal den Unterricht mit einer kleinen Lüge schwänzte. Und sich dann schuldig fühlte. "Wenn ich richtig Deutsch lernen will, muss ich die Schwäche bekämpfen", sagt Osman etwas martialisch. Dabei schaut er vor allem die vielen jungen Männer an, die auf Stühlen und Bänken vor ihm sitzen. Sie haben wie Osman Migrationsgeschichte, und wie er heute ihre Abschlusszertifikate von der Schlesischen 27 und der Handwerkskammer bekommen. "Ich fordere uns heraus, das hier ernst zu nehmen. Arbeiten, respektvoll sein, und lernen", so Osman weiter.
Jugendgewaltgipfel nach Silvesterkrawallen
Es ist eine Rede, die selbst konservativste Politiker zu Beifallsstürmen animieren könnte – sofern sie in Osman mehr sehen als einen dunkelhäutigen, jungen Mann, der in Berlin oft eher als Problemfall für Innenpolitiker bezeichnet wird. Als Auslöser von Freibadschlägereien. Oder Silvesterkrawallen. Letztere bestimmten die Wiederholungswahl und hatten als direkte Konsequenz zwei sogenannte Jugendgewaltgipfel zur Folge. Dort wurden 20 Millionen in diesem und 70 Millionen Euro im nächsten Jahr versprochen: Um die Jugendhilfe in Berlin zu stärken, damit sozial abgehängte Jugendliche und junge Erwachsene – darunter viele Migranten – die Unterstützung und Perspektive erhalten, die sie brauchen, um nicht auf die schiefe Bahn zu geraten. Vom Jugendclub mit Sportangebot bis zur ersten handwerklichen Ausbildung mit Deutschunterricht. So wie beim Verein S27.
Zuletzt schlugen allerdings einige freie Träger der Jugendhilfe Alarm: Von den versprochenen Millionen sei bislang nichts bei ihnen angekommen. "Ich dachte mir, jetzt wird man schnell handeln. Bis zum heutigen Tage ist daraus leider nichts geworden", sagte Kazim Erdogan, Vorstand des sozialen Vereins Aufbruch Neukölln und Vorsitzender des Berliner Beirats für Familienfragen Anfang Juli der dpa. "Meine Enttäuschung ist mehr als groß." Der rbb fragte daraufhin bei zahlreichen Teilnehmern des Gipfels nach – und tatsächlich stellt sich die Lage deutlich besser dar. Das Geld fließt durchaus, wenn auch nicht immer so schnell, wie sich manche Träger wünschen.
Sieben Bezirke bekommen jeweils 100.000 Euro
So haben zum Beispiel unmittelbar nach dem Gipfel sieben Bezirke mit besonders großen sozialen Herausforderungen, darunter Mitte und Neukölln, je 100.000 Euro für Projekte zur Gewaltprävention erhalten, bestätigt der Jugendbezirksstadtrat von Marzahn-Hellersdorf, Gordon Lemm (SPD). "Bei uns haben wir das zum Beispiel für trauma-sensibles Lernen, für die Ausbildung von Lehrern rund um das Thema Gewalt, für Sport- und Musikpädagogik, und für ein Kinder- und Jugendfestival verwendet." Im Bezirk Neukölln fließt das Geld in drei Projekte der kiezorientierten Gewalt- und Kriminalitätsprävention, darunter die Mädchen*räume in der High-Deck-Siedlung und eine temporäre Lerngruppe für Schülerinnen und Schüler mit besonderem Unterstützungsbedarf. Und in Mitte wird das Projekt "Sport gegen Jugenddeliquenz" ausgebaut, außerdem werden drei weitere Stadtteilmütter eingestellt und es soll ein zweites Väterzentrum gegründet werden.
Darüber hinaus werden über vier Millionen Euro in die Schulsozialarbeit investiert, teilte die Senatsverwaltung für Bildung mit. 60 zusätzliche Stellen sollen damit finanziert werden. "An jeder Schule ist jetzt mindestes ein Sozialarbeiter, und es werden zusätzliche Staatsanwälte eingestellt, die besonders beim Thema Jugendgewalt eingesetzt werden", sagt Bezirksstadtrat Lemm. Die projekt-basierte Jugendarbeit soll nun als nächstes ausgebaut werden, sagt Lemm: "Der Gewaltausbruch an Silvester ist auch ein Zeichen dafür, dass Jugendliche bei uns in der Gesellschaft nicht die Beachtung bekommen, die sie benötigen."
Geflüchtete sollen in Berlin "ankommen"
Auch der Verein S27 gehört zu den Trägern, die bereits wissen, dass sie ihre Angebote mit Mitteln aus dem Gipfel gegen Jugendgewalt aufstocken können - auch die "Karussell Lernwerkstätten" für unbegleitete, minderjährige Geflüchtete zum Beispiel, sagt Vereinsgeschäftsführerin Barbara Meyer. Das Geld soll den geflüchteten Kindern helfen, in der neuen Heimat Berlin anzukommen und den Übergang in die deutsche Schule vereinfachen. "Das ist keine Ersatzschule, sondern eine Stabilisierung mit kreativen Workshops", sagt Meyer. Für vier bis sechs Wochen kommen die Kinder und Jugendlichen raus aus den Flüchtlingsunterkünften und rein in die Werkstatt, machen Ausflüge, lernen Berlin und Deutschland kennen – auch durch ein wenig politische Bildung.
Auch das Programm in der Bildungsmanufaktur von S27, das Osman Nashiru absolviert hat, bekommt mehr Geld. "Wir können jetzt 20 Plätze mehr anbieten und daraus auch ein neues Format erproben, wo wir eine eigene Zukunfts- und Berufsmesse bauen", sagt Meyer. Das Ziel: Die Absolventen sollen über die Messe an Jobs in der Kreativwirtschaft kommen, zum Beispiel als Tontechniker oder Bühnenbauer. Denn das sei das Grundproblem von Jugendgewalt, sagt Meyer: "Die jungen Leute, die da randalieren, sind teilweise aus Gruppen, die jahrelang nicht in richtige Ausbildungs- und Arbeitserlaubnisse kamen", sagt Meyer. Das Ergebnis sei dann eine Abhängigkeit von Sozialhilfe, aus der die Betroffenen nicht herauskommen, was sie wiederum für den Arbeitsmarkt irgendwann kaum noch vermittelbar macht. "Mit Sozialarbeit allein kann man das Klima nicht ändern, es braucht produzierende Orte, wo die jungen Leute gefordert werden."
Erst Bildungsmanufaktur, dann 5-Sterne-Restaurant
Wie erfolgreich selbst kurze Programme wie die Bildungsmanufaktur von S27 sein können, beweist Mujtaba Yousufi. Er sitzt im Publikum, als Osman seine Rede an die Absolventinnen und Absolventen hält – dabei ist er selbst längst Alumni. "Das ist hier mein zweites Zuhause", sagt er und lacht laut. Mujtaba kam 2016 mit 27 Jahren aus Afghanistan nach Berlin, wegen der fehlenden Sicherheit in seiner Heimat. Seine Familie ist noch immer dort, oft kann er sie monatelang nicht erreichen. "Ich hatte damals noch keine Schule besucht, musste in Deutschland meine Muttersprache und dazu auch noch Deutsch lernen." 2018 kam er zur Bildungswerksmanufaktur, hat den Kochkurs besucht. "Nach zehn Monaten habe ich meine Ausbildung als Koch begonnen, letztes Jahr im Juni habe ich sie abgeschlossen." Heute kocht er in einem 5-Sterne-Restaurant und ist stolz, wenn ihm Gäste sagen, sein Schnitzel sei "das beste Schnitzel, das sie jemals hatten".
Barbara Meyer schaut zufrieden auf die Absolventen des Jahres 2023. "Das ist das Großartige daran, dass sie alle die Kurve kriegen." Man müsse sie nur ernst nehmen, etwas fordern, Chancen bieten und Erfolgserlebnisse schaffen, so Meyer. Vorurteile hingegen seinen "Gift für die Stadt und die Menschen sowieso". Sie sieht in den jungen Erwachsenen, die allesamt Migrationsgeschichte haben, keine Belastung für die Gesellschaft, sondern eine Bereicherung, potenzielle Fachkräfte. So wie Osman Nashiru, der auch Koch werden will. Sein Abschlusszeugnis hat er nun schon in der Hand. Als nächstes will er Restaurantfachmann lernen, die Probearbeit im Hotel hat er schon absolviert.
Dass die Gastronomie Fachkräfte händeringend sucht, kann man überall sehen, die Stellenangebote hängen in zahlreichen Betrieben. Integrieren muss er sich nicht mehr, meint Osman. "Ich fühle mich nicht als Flüchtling. Ich fühle mich als Deutscher." Doch Osman könnte als Gastro-Fachkraft doch noch verlorengehen. "Ich will auch Fußballer werden. Ich bin sehr gut, jeder in Ghana weiß das." Er grinst selbstbewusst. "Hertha BSC habe ich schon auf Social Media angeschrieben, aber noch keine Antwort bekommen." Die könnte allerdings noch kommen: Osman ist nämlich Stürmer. Und ja, er würde auch zweite Liga spielen, sagt er in Richtung der Hertha-Verantwortlichen. "Noch bin ich günstig zu haben!"
Sendung: 88.8, 17.07.2023, 17 Uhr