Interview | Iranische Künstlerin in Berlin - "Ich glaube, der Sieg über das Regime ist nah"
Vor einem Jahr löste der gewaltsame Tod von Jina Mahsa Amini Massenproteste in iranische Regime aus. Auch Ghazal Abdollahi protestierte und geriet dabei ins Visier der Staatsmacht. Seit Kurzem lebt sie im Berliner Exil.
Ghazal Abdollahi sitzt auf einer Fensterbank der Charlottenburger Hinterhofwohnung, in der sie seit ein paar Tagen wohnt. Eine Matratze liegt auf dem Boden, daneben der Koffer, aus dem die 29-Jährige noch lebt. Mehr Möbel gibt es nicht. Im Fenster stehen rote Kerzen und ein Bilderrahmen mit drei Fotos: Sie zeigen Abdollahis Vater als jungen Mann, sie selbst als Baby sowie ihre Mutter mit einem Fotoapparat in der Hand. Ghazal wirkt ernst, zugleich ruhig und ruhelos.
rbb|24: Ghazal Abdollahi, Sie waren in Teheran, als die Proteste begannen. Wie erinnern Sie sich daran?
Ghazal Abdollahi: Es war Abend, als sich die Nachricht von Jina Ahminis Tod verbreitete. Ich habe Aufrufe über Twitter und Instagram gelesen, dass man zum Krankenhaus kommen solle, in dem sie lag. Ich hatte den Drang, alles mit eigenen Augen sehen zu müssen, um Berichte überprüfen zu können. Also habe ich mich gegen Mitternacht ins Auto gesetzt und bin hingefahren. Die Revolutionswächter und die Polizei hatten die Straßen zum Krankenhaus gesperrt und versucht, Leute an der Weiterfahrt zu hindern. Mit Schreien, mit Schlägen. Die Gewalt war sofort da.
Warum hat der Tod von Jina Mahsa Amini Sie und so viele Menschen auf die Straßen getrieben?
Wir wollten, dass die Regierung zugibt, dass sie sie umgebracht hat. Wenigstens diesmal. Anders als damals, als sie das Flugzeug abgeschossen haben, das auf dem Weg von Teheran nach Kiew war [Abschuss des Ukraine-International-Airlines-Flug 752 durch iranische Flugabwehrraketen, Januar 2020, Anm. der Redaktion]. Sie haben dabei so viele Menschen getötet. Aber sie haben es lange abgestritten. Bei Jina haben sie ihre Schuld wieder geleugnet. Dieses Regime hat eine Geschichte von mehr als 40 Jahren Lügen. Das macht wütend.
Sie sind in Teheran in einem politisch und kulturell aktiven Elternhaus aufgewachsen. Sie haben Theater studiert, sind Künstlerin. Haben Sie und Ihre Familie schon früher Repressionen erfahren?
Mein Vater ist Filmemacher, Autor, darf seine Arbeiten aber schon lange nicht mehr zeigen. Meine Mutter ist Fotojournalistin und Frauenrechtlerin. Sie wurde immer wieder festgenommen. Während der Proteste im Herbst saß sie noch eine Haftstrafe im Evin-Gefängnis ab. Und auch meine Kunst muss immer etwas Politisches haben. Das liegt irgendwie in meinem Blut.
Wir kennen viele Aktivisten, Journalisten, Künstler – und damit Leute, die schon immer Probleme mit der Regierung hatten. Das Neue an dieser jüngsten Protestwelle war, dass sich Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen beteiligt haben. Und es wurden ganz normale Leute verhaftet, die nie Aktivisten waren.
Das Regime reagierte von Anfang an mit Gewalt auf die Proteste. Wohl zur Abschreckung. Es gibt so viele Videos, die das belegen. Und ich habe das selbst erlebt. Zum Beispiel in der einen Nacht, als sie direkt vor mir einen Jungen verhaftet haben. Der war von Kopf bis Fuß blutig. In einer anderen Nacht wurden Freunde, mit denen ich auf der Straße war, verhaftet.
Ich rannte weg. Sie schossen auf mich, ein Schuss traf mich am Nacken. Ich stürzte, verletzte mich, rannte weiter, voll mit Adrenalin. Ich wusste nicht, was passiert war, wie schwer ich verletzt war. Ich schaffte es irgendwie zu meinem Auto. Dort merkte ich, dass das Blut an meinem Körper vom Sturz kam – und dass mich am Hals zum Glück nur eine Art Paintball-Kugel getroffen hatte.
War diese Nacht für Sie der Auslöser, Iran zu verlassen?
Es war nie meine Entscheidung, Iran zu verlassen. Ich wollte nie weg. Meine Eltern haben gesagt: "Ghazal, wenn du bleibst, wirst du verhaftet. Sie wissen, dass du aktiv bist, sie sind hinter dir her. Und wenn sie dich verhaften, dir wehtun oder das androhen, haben sie ein zusätzliches Druckmittel gegen uns." Meine Mutter war in der Haft schon zu mir befragt worden. Meine Eltern wollten dem Regime diese Möglichkeit nicht geben.
Seit November sind Sie in Deutschland, erst in Frankfurt am Main, bei einer Tante, seit ein paar Wochen sind in Berlin. Wie geht es Ihnen hier?
Es ist schwierig. Mir haben zwar alle gesagt: Wie gut, dass du aus Iran raus bist, in dieser gefährlichen Situation. Aber ich finde, genau jetzt müsste ich dort sein! Ich glaube, der Sieg über das Regime ist nah. Ich kann nicht sagen, wann er kommt, aber er ist nah. Und ich will dabei helfen. Am Anfang habe ich gedacht, dass ich in drei, vier Monaten zurückgehen könnte. Jetzt dauert es länger. Wie viele Freunde von mir, die auch ins Ausland gegangen sind, zähle ich die Tage, dass diese Regierung fällt, dass wir zurück können. Ich habe nach wie vor Hoffnung.
Die Proteste wurden mit aller Härte unterdrückt. Jetzt scheint es auf den Straßen wieder ruhiger zu sein…
Aber der Widerstand ist geblieben. Ist die Protestbewegung nur lebendig, wenn Leute auf die Straße gehen und da erschossen werden? Natürlich ist der Straßenprotest wichtig, aber er ist keine Show, um dem Ausland zu beweisen, dass die Iraner nach wie vor kämpfen. Ja, sie kämpfen weiter.
Ehrlich gesagt: Es interessiert doch eh keinen, was mit der iranischen Bevölkerung passiert. Ab und zu kommt mal eine Solidaritätsbekundung. Aber ausländische Regierungen machen weiter Geschäfte mit der Islamischen Republik Iran. Wir haben keine echte Unterstützung. Wir haben nur uns.
Was hören Sie gerade von Ihrer Familie, von Freunden in der Heimat?
Ich habe täglich Kontakt zu ihnen. Jeden Tag passiert etwas. Es werden nach wie vor Menschen verhaftet, gefoltert, hingerichtet. Jetzt, kurz vor dem Todestag von Jina Amini, hat die Gewalt wieder zugenommen. Jede Sekunde, die ich hier sitze, kann es passieren, dass sie in unser Haus eindringen und meine Eltern verhaften. Jedes Mal, wenn ich sie anrufe und nicht erreiche, bin ich unruhig, dass etwas passiert ist. Keiner weiß, was passieren wird.
Es scheint, als würden Sie in einem Zwischenraum leben: Nicht mehr in Iran, noch nicht in Deutschland angekommen...
Genau so fühlt es sich an. Ich versuche schon, auch hier etwas zu machen. Es gab eine Ausstellung mit Zeichnungen von mir, Porträts iranischer Frauen, die in Haft sitzen. Ich denke über ein Fotoprojekt nach. Ich versuche, auch von hier aus für Iran zu kämpfen, meine Stimme für unser Volk zu erheben. Ich setze einen Fuß vor den anderen, versuche weiterzumachen. Aber ich habe meine Familie, meine ältesten Freunde zurückgelassen, muss ganz von vorne anfangen. Es ist nicht leicht. Für die Zukunft habe ich noch keinen Plan.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Anna Corves, rbb24-Inforadio, auf Englisch. Der Text ist eine Übersetzung.
Sendung: rbb24-nforadio, 14.09.2023
Am Donnerstag wird in Potsdam die iranische Protestbewegung "Women, Life, Freedom" mit dem M100 Media Award ausgezeichnet – einem Preis, der den Einsatz für Demokratie, Meinungs- und Pressefreiheit würdigt.