40 Jahre Kirchenasyl in Berlin - Grauzone für Geflüchtete
Vor 40 Jahren gewährte eine Berliner Kirchengemeinde Geflüchteten erstmals Schutz in ihren Räumen. Damit wurde der Grundstein für die Kirchenasylbewegung gelegt. Auch heute bietet das Kirchenasyl Geflüchteten eine letzte Perspektive. Von Liane Gruß
Am 30. August 1983 sprang der türkische Asylbewerber Cemal Kemal Altun aus dem sechsten Stock des Berliner Oberverwaltungsgerichts. Der politische Aktivist hatte Angst vor der Abschiebung und der drohenden Folter in der damaligen türkischen Militärdiktatur. Nach Monaten in Untersuchungshaft hatte er keine Hoffnung mehr, in Deutschland bleiben zu dürfen.
Sein Tod, an den seitdem ein Gedenkstein in der Berliner Hardenbergstraße erinnert, ließ nicht nur die Kirchen die Probleme geflüchteter Menschen neu bewerten. Kurz darauf entschloss sich erstmals eine evangelische Gemeinde in Berlin, einer Gruppe palästinensischer Geflüchteter aus dem Libanon und Jordanien Asyl zu gewähren.
Ursprünge in Berlin-Kreuzberg
Der frühere Pfarrer der Berliner Heilig-Kreuz-Kirche Jürgen Quandt erzählt, dass er von jungen Leuten auf das Schicksal der Familien aufmerksam gemacht worden sei. Ihnen drohte die Abschiebung in den Libanon, wo damals Bürgerkrieg herrschte. Als plötzlich ein Lkw mit Matratzen vor der Heilig-Kreuz-Kirche stand, ließ er die Geflüchteten rein. "Es ging nämlich damals darum, das war die Forderung, dass ein Abschiebestopp für den Libanon ausgesprochen wird vom Senat und dass für hier langlebende Familien eine sogenannte Altfallregelung getroffen wird." Quandt ist überzeugt, dass der öffentliche Druck durch das Kirchenasyl dafür gesorgt hat, dass diese Forderungen innerhalb kurzer Zeit umgesetzt wurden.
Wieland: Der Einzelne fällt in unserem System durch
Der damalige Anwalt von Cemal Kemal Altun, der frühere Grünen-Politiker Wolfgang Wieland, unterstützte mit einer Rechtsberatung die ersten Menschen im Kirchenasyl. Wieland, der heute Ombudsmann beim Berliner Landesamt für Einwanderung ist, ist weiterhin überzeugt: "Man rettet Menschen damit. Es hat sich immer wieder gezeigt, dass unser System zu grobe Maschen hat, dass der Einzelne dort manchmal durchfällt, und dass bei einer nochmaligen Betrachtung des Ganzen die Ausländerbehörden oder übergeordnete Instanzen, Innenministerien und andere, zu anderen Bewertungen kommen."
Berlin und Brandenburg: 143 Menschen im Kirchenasyl
Mit dem Kirchenasyl konnte in den vergangenen 40 Jahren vielen Menschen eine reale Zukunftsperspektive gegeben werden. Auch die Härtefallkommissionen gelten als Erfolg der Kirchenasylbewegung. Doch im Kirchenasyl leben in der Regel weniger Menschen als oft angenommen, momentan deutschlandweit etwa 650 Menschen. In Berlin und Brandenburg waren es Ende Juli 143 Menschen, davon 31 Kinder.
Starre Regeln
Seit der Einführung des Dublin-Systems geht es beim Kirchenasyl vor allem um sogenannte Dublin-Fälle - also nicht um Menschen, die in ihr Heimatland, sondern in ein anderes EU-Land abgeschoben werden sollen. Das Dublin-System sieht vor, dass Geflüchtete nur in dem EU-Staat Asyl beantragen können, in dem sie zuerst registriert wurden. Das sind meist Länder an den EU-Außengrenzen. Werden sie nicht innerhalb von regulär sechs Monaten in dieses EU-Land zurückgeführt, geht die Zuständigkeit für das Asylverfahren auf Deutschland über - eine Zeit, die im Kirchenasyl überbrückt werden kann.
Ayoub und Mohammad: Schutz im Kirchenasyl
Ayoub und Mohammad aus Syrien sind über Bulgarien in die EU-eingereist. Beide waren Anfang des Jahres im Kirchenasyl in der Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin-Kreuzberg. Ayoub ist 24 und vor dem Militärdienst geflohen, der unter dem Assad-Regime für junge Männer verpflichtend ist. Er erzählt, sein Bruder sei festgenommen worden und seitdem verschwunden. Damit ihm nicht das Gleiche passiert, habe ihm seine Familie geraten, das Land zu verlassen. Mohammad ist 32, hat in Syrien zum Schein geheiratet und Kinder gezeugt. Denn eigentlich möchte er als Frau leben, hat in Berlin eine Hormontherapie verschrieben bekommen.
Brutales Vorgehen gegen Geflüchtete in Osteuropa
Oft wird gefragt, warum Schutzsuchenden kein Asylverfahren in einem anderen EU-Land zumutbar sei. Vor allem Geflüchtete, die über Länder Osteuropas in die EU einreisen, berichten seit einiger Zeit von systematischen Misshandlungen in diesen Ländern, heißt es vom Verein Asyl in der Kirche Berlin-Brandenburg. Die Juristin Cecilia Juretzka sagt, es sei ganz offensichtlich, dass sie dort unerwünscht seien. "Wer in Bulgarien von der Polizei misshandelt wurde, tagelang nichts zu Essen, nichts zu Trinken bekommen hat, trotz massivster Erkrankungen keine ärztliche Versorgung erhalten hat, sowohl in der Haft als auch später in einer offenen Einrichtung, der hat jegliches Vertrauen darin verloren, dass er dort Schutz bekommen kann."
Ayoub erzählt, dass er in Bulgarien sofort festgenommen worden sei. Einen Monat sei er zusammen mit 40 Leuten eingeschlossen gewesen. Man habe ihn geschlagen, ihm Stromschläge gegeben. Mohammad zeigt Fotos von tiefen Narben auf seinem Körper, Folgen der Misshandlungen in Bulgarien. Ärzte haben ihm eine posttraumatische Belastungsstörung attestiert, wie er sagt.
Nur Härtefälle kommen ins Kirchenasyl
Ins Kirchenasyl werden nur Menschen aufgenommen, die wie Ayoub und Mohammad von der Kirche selbst als Härtefall eingestuft werden. Denn Kirchenasyl gilt bis heute als Ultima Ratio, wenn alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Zwischen den Behörden und den Kirchen gibt es seit 2015 dazu eine Verabredung. Jedes Kirchenasyl wird dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gemeldet und begründet. Ob das Kirchenasyl allerdings respektiert wird, ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich.
Sendung: rbbKultur, 27.08.2023, 09:03 Uhr