Reportage von den Special Olympics World Games - Andere Maßstäbe
Was ist bei den Special Olympics World Games eigentlich auf den Zuschauerrängen los? Eindrücke von einem Tag mit umjubelten Verlierern, stolzen Müttern aus England und Sportfans, die Leistung weniger interessiert. Von Shea Westhoff
Schon in den Morgenstunden knallt die Sommerhitze so sehr auf den Berliner Olympiapark, dass das freundliche Helfer-Pärchen sich vorsorglich mit kurzen Hosen bekleidet hat, um den Tag möglichst wohltemperiert zu bewältigen. Im breiten schwäbischen Dialekt weist der Mann, vielleicht 70 Jahre alt, den Weg zum Futsal, der Fußball-ähnlichen Kleinfeld-Disziplin. Einmal um das Olympiastadion herum: "Futsaaal isch auf dr andr Seit".
Er und seine Frau lächeln dabei, nein, strahlen, und dieser Gemütszustand wird den gesamten Tag über ständiger Wegbegleiter bei den Special Olympics World Games sein. Ob bei Athletinnen, Trainern, Helfern oder Security.
Normalerweise werden Zuschauer mit Rekorden geködert
Diese Haltung passt zu den großen, umarmenden Worten, die die Sportveranstaltung für Menschen mit geistigen und mehrfachen Beeinträchtigungen bereits in den ersten Tagen begleiteten: von "Fröhlichkeit und Fairness" war die Rede (Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier), vom "Zusammenkommen" (Basketball-Legende Dirk Nowitzki) und natürlich von "Inklusion", was eigentlich niemand vergaß zu erwähnen. Werte, die wichtiger sind als das bloße Gewinnen. Es geht darum, dass jeder Athlet und jede Athletin an diesen Tagen im Fokus steht, losgelöst davon, ob sie sich mehr oder weniger im Bereich der Spitzenklasse bewegen.
Aber wie fühlt es sich eigentlich an, als Zuschauer diese besonderen Wettbewerbe zu verfolgen, wenn das Ergebnis nicht das ist, was am Ende zählt. Normalerweise werden Sportevents dem Publikum ja im Vorfeld gerade mit packender Spannung schmackhaft gemacht, es geht um messbare Erfolge, Rekorde, Vergleiche, Rivalitäten.
Dass es sich hier nun um eine besondere Sportveranstaltung handelt, wird beim Futsal sofort deutlich. Die Special-Olympics-Auswahl des Iran spielt gegen Mauritius. Das Feld ist in etwa so groß wie ein Basketballplatz. Die Teams spielen mit einem sprungreduzierten Fußball.
Die Verlierer anfeuern
Das Spiel ist eine Einbahnstraße auf das Tor der Iraner, nach nicht einmal zehn Minuten leuchtet auf der Anzeigetafel eine "7" bei Mauritius, und eine "0" bei den Kickern vom Persischen Golf.
Die rund 150 Zuschauer auf der Tribüne verstehen nun relativ schnell, worum es geht: die unterlegenen Iraner anzufeuern, zu beklatschen. Zu feiern, wenn die Iraner zum Abschluss kommen – ob vom Torerfolg gekrönt oder nicht. Und die sind nun spürbar angespornt. Bis zur Halbzeitpause kassieren die Iraner nur noch zwei Gegentore, immerhin. Und ihr Trainer? Der großgewachsene, graumelierte Übungsleiter stürmt nach dem Pausenpfiff zu seinen Spielern, umarmt jeden, klopft auch dem Torhüter anerkennend auf die Schulter. Szenen, die bleiben.
"Ich bin hier fürs Gefühl"
Unweit des Futsal-Geschehens starten im Hanns-Braun-Stadion die Leichtathletinnen- und athleten zu ihren Wettkämpfen. Während die Teilnehmer auf der überdachten, schattigen Tribüne auf ihren Einsatz in Disziplinen wie dem Kurz- oder Langstreckenlauf, Weitsprung oder Kugelstoßen warten, sitzt das Publikum gegenüber auf der Tribüne unter freiem Himmel, zirka 500 Menschen sind es am Vormittag. Einer davon ist Guntram Niederste-Hollenberg. Auf das Olympiagelände war der Rentner bislang nur anlässlich der Spiele des Fußballklubs Hertha BSC gegangen.
Während die männlichen 1.500-Meter-Läufer gegeneinander antreten, erzählt er, warum es ihn als Zuschauer zu den Special Olympics gezogen hat: Vor mehr als 50 Jahren habe er ein Praktikum bei der Lebenshilfe absolviert, in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. "So liebe Menschen" habe er in seinem gesamten späteren Berufsleben nicht mehr erlebt, sagt er.
Im Fernsehen habe er unlängst die Special Olympics verfolgt, nun habe er sich das mal selber anschauen wollen. Bei den Läufern schiebt sich derweil der Kanadier Jeremy Wall nach 1.500 Metern als Erster ins Ziel. Frenetischer Jubel von den Rängen, auch Niederste-Hollenberg applaudiert. Am Wochenende will er gleich noch mal zum Sportevent. "Ich bin hier fürs Gefühl", sagt er. Die einzelnen Leistungen interessierten ihn weniger.
Jubelnde Familien aus Essex
So herzlich und gelassen wie der Rentner scheinen hier tatsächlich die meisten Zuschauer. Ob der Erste oder Letzte ins Ziel einläuft: Bejubelt wird jeder.
Einen Kilometer weiter, auf dem Maifeld des Olympiastadions, ist die Stimmung dann vergleichsweise erhitzt. Es wird Fußball gespielt: USA gegen Großbritannien. Die eigens für die Special Olympics errichtete Haupttribüne ist voll besetzt, es hallen "Go USA!" - sowie "Go GB!"-Rufe auf den Rasen. Dort spielen sieben gegen sieben in sogenannten "Unified-Teams", also Mannschaften, in denen sowohl Fußballer mit als auch ohne Beeinträchtigung gemeinsam auflaufen.
Besonders lautstark ist eine Gruppe von Britinnen mittleren Alters in den vorderen Reihen, manche tragen den blau-roten Union Jack als Hut oder als T-Shirt. Viele sind Mütter der Spieler, alle kommen aus Essex, einer Region an der ostenglischen Küste.
Eine von ihnen ist Nicola Stuart. Sie kämpft gleich mit den Tränen, als man sie auf ihren Sohn anspricht. Für Bradley, 26 Jahre alt, sei Fußball alles: "Morgens, mittags, wahrscheinlich auch beim Schlafen, da denkt er nur an Fußball", sagt sie. Der Sport gebe ihm Selbstbewusstsein. So sei er beispielsweise noch nie geflogen in seinem Leben, erst jetzt, für die Sportspiele in Berlin, da habe er sich getraut.
Und dann, zu Beginn des zweiten Durchgangs, da zieht Bradley Stuart von rechts in den Strafraum, bekommt den entscheidenden Pass und trifft ins kurze Eck. Ein Jubelschrei aus dem Block des Anhangs aus Essex, Mutter Nicola reißt die Arme nach oben, ihr Sohn deutet vom Fußballplatz mit einem Lächeln zu ihr.
"Fußballdeutschland: Singt ihr auch für mich?"
Weiter geht es zur Stadtmitte, wo nahe dem Alexanderplatz die Disziplin 3x3-Basketball, also Streetball, stattfindet. Auch Kevin Prymus wird hier antreten, ein großgewachsener junger Mann aus Essen. Er ist Startspieler des Special-Olympics-Teams und das Gesicht einer breit angelegten Plakat-Kampagne des Veranstalters, die das Sportpublikum direkt adressiert. Von Bushaltestellen, Marktplätzen und Hauswänden blickt Prymus einen an und fragt: "Hey, Fußballdeutschland: Singt ihr auch für mich?"
Singen, nun ja. Aber zumindest an diesem Tag zeigen sich Teile Fußballdeutschlands offen für neue Sporterlebnisse. Die deutsche Auswahl beginnt nun gegen das Team aus Neuseeland. Die beiden Tribünen am Basketball-Court sind voll besetzt, aus den Boxen schallt Nenas '99 Luftballons'. Das Publikum ist gut gelaunt, die Tickets sind kostenfrei, manche sind eher zufällig hier gelandet. Ein Zuschauer in der ersten Reihe ist hier, weil er frei von der Gastroarbeit hatte und eigentlich am Alex bummeln wollte. Er mag Basketball, sagt er.
Das Spiel startet, Prymus erzielt den ersten Korb der Partie. "Singt ihr auch für mich?" - der Zuschauer in der ersten Reihe ist sich jedenfalls sicher, dass Prymus heute den Unterschied machen wird.