Herthas Cuisance und die Frage nach seiner Qualität - Die Reifeprüfung
Michael Cuisance ist der bisher überzeugendste Sommer-Neuzugang bei Fußball-Zweitligist Hertha BSC. Auch, weil das ehemalige Super-Talent als geläutert gilt. Dabei ist er in Berlin vielleicht einfach nur am richtigen Ort. Von Ilja Behnisch
Vielleicht ist der Fußball ja auch deshalb so beliebt, weil vieles um ihn herum so wunderbar redundant ist und leichter Hand in Schubladen passt. Weshalb es Spieler nach Niederlagen oftmals nicht genug gewollt haben, vielleicht waren es auch die fehlenden Automatismen, aber gut, man muss von Spiel zu Spiel denken.
Das ist alles genauso wahr wie vage und unbedeutend und deshalb ganz wunderbar. Der Mensch braucht schließlich seine Routinen. Auch in der Betrachtung von Profi-Fußballern, womit wir bei Michael Cuisance von Hertha BSC wären, dem mit vier Toren und drei Torvorlagen aktuell erfolgreichsten Spieler des Klubs.
Von Gladbach zu den Bayern
Der Franzose ist gerade einmal 25 Jahre alt, schwirrt aber schon eine gefühlte Ewigkeit durch die Köpfe der (deutschen) Fußball-Fans. Im Sommer 2017 kommt er als gerade einmal 17-Jähriger nach Deutschland, zu Borussia Mönchengladbach. Max Eberl, der heute die Geschicke des FC Bayern München leitet und damals Sportdirektor der Borussen war, schwärmte: "Mika hat sehr gute Voraussetzungen: Er ist ein sehr guter Fußballer, kann viel laufen, hat kreative Ideen, ist willig."
Ein Jahr nach seiner Ankunft wird Cuisance von den Anhängern Mönchengladbachs zum Spieler der Saison gewählt. Wobei anzumerken ist, dass die Konkurrenz beim damaligen Tabellen-Neunten nicht sonderlich illuster war. Immerhin: Cuisance zählt nun europaweit zu den zehn wertvollsten Spielern seines Jahrganges. Zusammen mit so klangvollen Namen wie Matthijs de Ligt (heute Manchester United), Gianluigi Donnarumma (heute Paris St. Germain) oder Kai Havertz (heute FC Arsenal).
Ein "Lustlos-Profi" für die Bayern
Zwei Jahre später wechselt er für acht Millionen Euro Ablöse zum FC Bayern. Doch der Transfer geht nicht geräuschlos über die Bühne. Vom "Lustlos-Profi" ist im Vorfeld die Rede. Bis heute hält sich hartnäckig das Gerücht, er habe mit offenen Schnürsenkeln trainiert und so unter Beweis gestellt, an seinen mediokren Kollegen und Aufgaben in Gladbach keine rechte Freude mehr zu haben.
Cuisance selbst bestreitet das bis heute und bedankte sich schon vor Jahren im französischen Magazin "So Foot" bei einem seiner damaligen Mitspieler: "Als ich zum Beispiel von Gladbach zu den Bayern gewechselt bin, sagte Christoph Kramer, dass ich mir weder im Training noch im Spiel die Schuhe binden würde, was mich als einen Kerl erscheinen ließ, dem alles egal war. Aber meine Schnürsenkel waren immer zugebunden!" Doch das Klischee war stärker als die Wahrheit. Wohl auch, weil Cuisance bei den Bayern zwar ab und an eingewechselt wurde, vor allem aber bei der zweiten Mannschaft ran musste.
Der Edeltechniker hat das Kämpfen gelernt
Nun war Cuisance weder der erste noch letzte Jungprofi, der es nicht geschafft hat bei den Bayern. Doch während man anderen schlicht die nötige Qualität absprach, schwang bei ihm seither immer der Vorwurf fehlender Professionalität mit. Und während er im Zuge seiner Leihe zum französischen Giganten Olympique Marseille (2021/22) noch regelmäßig spielte, wurden die Vereinsnamen in der Folge ebenso kleiner wie seine Einsatzzeiten.
Venedigs Sportdirektor Alex Menta sagte zwar noch gegenüber dem Fußballmagazin 11Freunde: "Er ist so ein großer Kämpfer und statistisch gesehen der gefährlichste Spieler aus der Tiefe des Spiels, den ich je gesehen habe." Schränkte aber zugleich auch ein: "Dieser Junge braucht nur etwas Liebe. Wenn man ihn trifft, ist er ein so netter, übersprudelnder Bursche."
Was auch immer mit der Liebe passiert ist in Venedig, Cuisance Aufenthalt endete nach wenig Einsatzzeiten mit dem Abstieg aus der ersten italienischen Liga. Ein Jahr später stieg er erneut ab, dieses Mal leihweise in Genua. Dann tauchte er in Osnabrück wieder auf. Zweite Bundesliga. Für einen, der nur vier Jahre zuvor noch als Überflieger zu den Bayern kam, ein gehöriger Absturz. Weshalb alsbald zu lesen war, wann und warum Cuisance seine Karriere an die Wand gefahren habe und wieder viel von offenen Schnürsenkeln. Doch der vermeintlich so unprofessionelle Profi schickte sich an, zu einem der besten Zweitligaspieler der vergangenen Spielzeit zu werden. Die Schublade für floskelig-folgerichtige Einordnungen ging zackig auf: Der Edeltechniker hatte das Kämpfen gelernt!
"Mein Sohn hat mir viel Kraft gegeben"
Den Abstieg des VfL Osnabrück konnte auch Cuisance nicht verhindern. Auch deshalb folgte der Wechsel zu Hertha BSC. Bei den Berlinern zählt Cuisance seither zu den wenigen Konstanten in einer wenig konstanten Saison. Weshalb nun viel vom gereiften Michael Cuisance zu lesen und zu hören ist. Auch weil er zum Beispiel gegenüber rbb|24 sagte: "Mein Sohn hat mein Leben verändert. Er war das, was ich in den letzten zwei Jahren gebraucht habe. Er hat mir viel Kraft gegeben."
Nun ist Hertha BSC derzeit Tabellen-Siebter. Und vielleicht, so könnte man vermuten, wäre dieser Michael Cuisance bei einem im Mittelfeld platzierten Zweitligisten zu jedem Zeitpunkt seiner Karriere einer der eher besseren Spieler gewesen. Auch ohne Sohn. Und mit offenen Schnürsenkeln. Die schönere Schublade wäre das allerdings nicht.
Sendung: rbb24, 21.10.2024, 22 Uhr