Zu lang, zu schwer, zu hässlich - Noch immer landet tonnenweise frisches Gemüse im Müll
Nicht alles, was gegessen werden könnte, wird auch in Lebensmittelregalen angeboten. Zu große Spargelstangen etwa landen aufgrund einer EU-Verordnung im Müll. Tonnenweise Lebensmittel gehen so pro Saison verloren. Von Heimke Burkhardt
Noch wenige Wochen, dann werden allein bei Jürgen Jacobs in Beelitz 60.000 Kilo Spargel wachsen. Doch wenn der Landwirt den Kontrollgang über die Spargel-Felder macht, ärgert er sich schon jetzt über das, was nach der Ernte auf ihn zukommt: "Wir produzieren hier mit effizienten Mitteln ein sehr gesundes Gemüse, aber es ist schade, wenn schon so viel weggeschmissen werden muss, bevor es in den Handel kommt - weil die Vorschriften es so vorsehen."
Tonnenweise Ausschussware - aus optischen Gründen
Das Problem: Die Spargelstangen von Bauer Jacobs dürfen nicht länger als 22 Zentimeter werden. Sonst darf er sie im Supermarkt nicht verkaufen. Der Salatkopf darf nur zwischen 250 und 300 Gramm wiegen, sonst wird er nicht angenommen. Das sehen EU-Gesetze vor. Und ein geplatzter Kohlrabi schafft es auch nicht in den Laden. 40 Prozent der Ernte werden also direkt wieder umgepflügt.
Uniformität gilt für das deutsche Gemüse. Tonnenweise landet es im Müll oder in der Ackererde: Dieser sogenannte Vor-Ernteverlust liegt laut Deutscher Umwelthilfe bei 16,5 Millionen Tonnen. Das sind mehr als 400.000 Lkw-Ladungen, die in keiner Statistik auftauchen.
"Laut den offiziellen EU-Vorgaben zur Erhebung der Statistiken der Lebensmittel-Verschwendung muss Deutschland diese Zahlen nicht erheben, trotzdem ist es ein unheimlich wichtiger Faktor, der auch zeigt, dass die Schuld, die wir in den Privathaushalten sehen, gar nicht so unheimlich hoch ist, wie es in den offiziellen Statistiken manchmal aussieht", sagt Leonie Netter von der Deutschen Umwelthilfe.
Ausschussware nicht statistisch erfasst
Laut aktuellen Statistiken des Bundes trägt der Endverbraucher mit 59 Prozent zwar den größten Anteil an den jährlich fast elf Millionen Tonnen Lebensmitteln, die im Müll landen - der Handel liegt bei sieben Prozent, die Produzenten bei nur zwei Prozent.
Rechnet man allerdings den von der Umwelthilfe geschätzten Vor-Ernteverlust dazu, sieht das anders aus: Aus insgesamt elf Millionen Tonnen Lebensmittel-Abfall werden dann 27,5 Millionen Tonnen. Diese Zahl taucht in den Statistiken zur Lebensmittel-Verschwendung nicht auf, weil eine zwar essbare, aber noch nicht geerntete Ackerfrucht offiziell gar kein Lebensmittel ist. Stattdessen wird das Gemüse teilweise zum Beispiel als Dünger gewertet, etwa, wenn es untergepflügt wird.
Ästhetische Ansprüche des Handels beeinflussen Kaufverhalten der Kunden?
Beraterin Netter von der Umwelthilfe sieht die Politik in der Verantwortung, um hier Klarheit zu schaffen: "Solange wir diese Zahlen nicht berechnen, können wir auch nicht darüber reden, wie wir das Problem lösen können." Das Problem - das liegt vor allem am Handel, so sieht es die Deutsche Umwelthilfe. Denn die von ihm jahrelang gesetzten und weiterhin geforderten hohen ästhetischen Ansprüche, beispielsweise an Obst oder Gemüse, beeinflussen einerseits die hohe Lebensmittelverschwendung bereits bei der Ernte, andererseits auch das Kaufverhalten der Kunden, die eben nicht zur krummen Gurke oder zum leicht angeschlagenen Apfel greifen. Die Macht des Handels beim Thema "Lebensmittel-Verschwendung" werde immer noch vollkommen unterschätzt.
Philipp Fuchs hat die Nicht-Verschwendung von Lebensmitteln zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Er ist in Berlin-Weißensee für die Organisation Food-Sharing unterwegs und rettet Obst und Gemüse vor der Tonne. In einem Weißenseer Biomarkt holt er angeditschtes Obst und Gemüse und bringt es in ein nahegelegenes Familienzentrum, wo es kostenlos verteilt wird. Seine Motivation? "Ich bin der Meinung, dass Ressourcen verwendet werden müssen. Um jeden Preis." Dass verzehrbare Lebensmittel entsorgt werden, ist für ihn unverantwortlich.
Unverantwortlich - aber von wem? Ist die Kundschaft das Problem, die nur die schönsten Äpfel in ihre Obstschale legen möchte? Oder ist es der Handel, der dem Kunden die glattesten Äpfel, die schönsten Karotten und sowieso nur einwandfreie Ware anbieten will?
Umdenken von Konsumenten beginnt allmählich
Phillip Haverkamp ist Geschäftsführer des Handelsverbands Berlin-Brandenburg, für ihn ist der Kunde in der Verantwortung: "Ich glaub, dass der Handel sich schon sehr klar nach den Nachfragen und Ansichten des Konsumenten richtet, denn wir wollen ja unseren Umsatz erzielen, wir wollen zufriedene Kunden - und insofern bieten wir an, was der Kunde möchte."
Haverkamp sieht den Handel nicht alleine in der Verantwortung, Verbraucherbildung zu betreiben. Dieses Thema müsse schon viel früher, etwa in den Schulen, angefasst werden. Aber: Die Verbraucher scheinen sich zu bilden. Tatsächlich gibt es seit wenigen Jahren laut Umwelthilfe ein Umdenken, zu sehen an einem massiven Anstieg geretteter Essensportionen. Etwa durch Organisationen wie Food-Sharing.
"Das Prinzip bei Food-Sharing ist ja, dass es gar nicht direkt um Bedürftigkeit geht", erklärt Isabel Härdtle, die im Weißenseer Familienzentrum gemeinsam mit Philipp Fuchs Obst und Gemüse sortiert. "Wir überprüfen jetzt nicht: Wer braucht das Essen dringender? Es geht darum, dass nichts weggeschmissen wird oder das weniger weggeschmissen wird. Das heißt, alle Menschen, die Interesse haben, können vorbeikommen und sich was nehmen."
Verantwortung trägt niemand
Im Kleinen verändert sich etwas, aber was ist mit dem großen Ganzen? Auf Anfrage des rbb heißt es vonseiten des Bundeslandwirtschaftsministeriums eher unkonkret: "In sektorspezifischen Dialogforen werden [...] konkrete Maßnahmen zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung entwickelt und getestet. Erfolgreiche Maßnahmen sollen von den Unternehmen umgesetzt werden. Mit [...] der Lebensmittelversorgungskette werden Verhandlungen über Zielvereinbarungen geführt."
Es ist ein Kreislauf der Lebensmittel-Verschwendung, bei dem alle anscheinend auf den jeweils nächsten zeigen: Der Produzent sieht die Verantwortung bei Handel und Politik, der Handel schiebt die Verantwortung auf Verbraucher und die Politik. Und der Verbraucher sieht wiederum den Handel und auch die Politik am Zug.
Spargel-Bauer Jacobs fragt sich: "Wer hat damit angefangen, wer hört damit auf? Wenn nicht aus der Politik mal eine Vorgabe kommt, die sagt: Leute wir lösen diesen Teufelskreis auf - dann wird sich an diesem ganzen Sachverhalt nichts ändern." Bis dahin werden Food-Sharer weiter genießbare Lebensmittel vor dem Müll retten, der Einzelhandel wird weiterhin vor allem auf hübsch anzusehende Ware setzen und Landwirte werden wieder und wieder ihre kostbare Ernte wegschmeißen.
Sendung: Supermarkt, 23.01.2023, 20:15 Uhr