Milliardenaufträge für neue Züge - Showdown im Kampf um die Berliner S-Bahn-Ausschreibung
Mehr als 1.000 neue S-Bahn-Wagen wollen die Länder Berlin und Brandenburg beschaffen. Doch das milliardenschwere Verfahren stockt seit Monaten wegen einer Klage. Vor dem Kammergericht beginnt nun am Freitag die Verhandlung. Von Thorsten Gabriel
Wenn am Freitag ab 10 Uhr im Saal 449 des Berliner Kammergerichts über das größte S-Bahn-Vergabeverfahren in der Geschichte des Berliner Nahverkehrs verhandelt wird, haben die Richterinnen und Richtern des Vergabesenats den vielleicht anstrengendsten Teil ihrer Arbeit schon hinter sich. Monatelang haben sie sich durch tausende Seiten juristischer Stellungnahmen und Vergabeunterlagen gewühlt. Das Verfahren, bei dem der weltweit zweitgrößte Bahntechnikkonzern Alstom klagt, hat nicht nur historische Ausmaße, sondern ist vor allem auch höchst kompliziert.
Wäre in dem Vergabeverfahren alles glatt gelaufen, stünde schon seit gut anderthalb Jahren fest, welches Unternehmen ab 2027 mit neuen Zügen auf der Berliner Stadtbahn und den Nord-Süd-Linien unterwegs sein wird. Doch es lief nicht glatt – zumindest nicht aus Sicht von Alstom. Das Unternehmen sieht sich durch die Wettbewerbsvorgaben benachteiligt. Die Frage, die zu klären ist, lautet: Sorgen die Ausschreibungsbedingungen, die ursprünglich dafür gedacht waren, die Monopolstellung des "Platzhirschen" Deutsche Bahn zu brechen, für mehr Gerechtigkeit – oder begünstigen sie am Ende ausgerechnet das Konsortium um den DB-Konzern?
Wie viel Wettbewerb soll es sein?
Es geht um bis zu 2.248, mindestens aber um 1.400 neue S-Bahn-Wagen, die beschafft, betrieben und instandgehalten werden sollen – ein Auftragspaket von mehr als acht Milliarden Euro. Monatelang hatte ab 2019 die vor-vorherige Regierungskoalition von SPD, Linken und Grünen um die Ausschreibungsmodalitäten gerungen. Sie musste eine Antwort geben auf die Frage: Wie viel Wettbewerb soll es sein?
Seit Jahrzehnten betreibt die Deutsche Bahn das Berliner S-Bahn-Netz im Alleingang. Zuletzt hatte sie 2015 den Zuschlag für den S-Bahn-Ring erhalten. Dort fahren nun Züge der neuesten Generation, deren Bau damals beauftragt wurde. Das läuft im Grundsatz problemlos, die Querelen der S-Bahn-Krise von 2009 sind zumindest Geschichte. Damals zog das Eisenbahnbundesamt nahezu drei Viertel aller S-Bahn-Züge wegen Mängeln aus dem Verkehr. Die Deutsche Bahn stand wegen Misswirtschaft am Pranger.
Aus der Politik wird vor einer "Zerschlagung" der S-Bahn gewarnt
Manch einer hätte es damals gern gesehen, wenn schon bei der Ring-Ausschreibung ein anderes Unternehmen zum Zuge gekommen wäre. Doch die Ausschreibungsmodalitäten führten dazu, dass die Deutsche Bahn als einzige Bewerberin übrigblieb. Auf der politischen Bühne beschlich viele daraufhin das Gefühl, der Konzern habe Dank seiner Vormachtstellung damit auch die Preise diktieren können.
Deshalb sollte es bei den S-Bahn-Teilnetzen "Stadtbahn" (S3, S5, S7, S75 und S9) und "Nord-Süd" (S1, S15, S2, S25, S8, S85 und S86) anders laufen: mehr Wettbewerbsdruck, um am Ende nicht erneut mit der Deutschen Bahn als einziger Bieterin dazustehen. Doch gleichzeitig warnten Vertreterinnen und Vertreter von Linken und SPD, aber auch der seinerzeit noch oppositionellen CDU davor, die S-Bahn könne "zerschlagen" werden – sprich: das S-Bahn-Netz künftig von verschiedenen Unternehmen betrieben werden.
Ein Vergabeverfahren mit neun Bewerbungsmöglichkeiten
Als Konsequenz brachte die damalige grüne Verkehrssenatorin Regine Günther ein komplexes Vorgabemodell mit insgesamt neun verschiedenen Bewerbungsmöglichkeiten auf den Weg. Unternehmen können für die beiden Teilnetze Stadtbahn und Nord-Süd separate Angebote abgeben und dabei sowohl für den Betrieb als auch für Beschaffung und Instandhaltung bieten. Auch Komplettangebote für alles sind möglich. Die Verträge für Beschaffung und Instandhaltung der neuen Züge werden eine Laufzeit von 30 Jahren haben, die Betriebsverträge aus rechtlichen Gründen nur über 15 Jahre.
Die Vielzahl der Vergabemöglichkeiten lässt erahnen, wie schwer sich die damalige rot-rot-grüne Koalition mit dieser Ausschreibung tat. Anfangs drängte Günther noch darauf, dass kein Bewerber das Komplettpaket erhalten sollte. Doch diese "Zuschlagssperre" war in der Koalition nicht mehrheitsfähig. Dass am Ende die Deutsche Bahn den Rundum-Zuschlag erhält und damit die Berliner S-Bahn weiterhin komplett betreibt, gilt damit trotz der Losaufteilung als durchaus realistisch. Denn womöglich könnte erneut nur sie es sein, die für ein Gesamtpaket das beste Angebot vorlegen kann.
Kritik vom Verband der Privatbahnen
Die Deutsche Bahn bewirbt sich gemeinsamen mit den Konzernen Siemens und Stadler um den Zuschlag. Die beiden Firmen haben dabei den Vorteil, dass sie bereits die aktuelle Baureihe der S-Bahn fertigen. Das könnte zu erheblichen Kosteneinsparungen führen, sagen die einen. Andere halten dagegen, dass dieser Vorteil eher gering sei, da auch die derzeit aktuelle Baureihe bereits vor mehr als zehn Jahren designt wurde und sich die Anforderungen an Fahrzeuge seitdem deutlich verändert hätten.
Kritik kam bereits vor zweieinhalb Jahren aber auch vom Privatbahnen-Verband Mofair. Ein Gutachten des Verbands stößt sich vor allem an dem Zusammenschluss der drei Unternehmen und hält diesen im Rahmen des Verfahrens für rechtswidrig. Durch eine "exklusive Zusammenarbeit" der Deutschen Bahn mit den Schienenfahrzeugherstellern missbrauche der Konzern seine marktbeherrschende Stellung, so einer der Vorwürfe. Vor allem aber sei damit der Wettbewerb im Vergabeverfahren "von Anfang an ausgeschaltet" worden.
Warten auf die Entscheidung des Kammergerichts
Unter anderem dagegen war der französische Konzern Alstom Ende Juni 2021 zunächst vor die Vergabekammer des Landes Berlin gezogen – und war dort allerdings im Oktober 2022 abgeblitzt. Als Konsequenz daraus reichte Alstom Beschwerde beim Kammergericht ein. Seitdem hatte sich das Vergabeverfahren immer weiter verzögert. Ohne Gerichtsentscheidung war keine sinnvolle Fortführung möglich. Immer wieder musste die Frist zur verbindlichen Abgabe von Angeboten verschoben werden. Derzeit endet die Frist am 28. März.
Sollte das Gericht die Beschwerde von Alstom abweisen, würde es bei diesem Zeitplan bleiben. Dann könnte im Herbst entschieden und zum Jahresende die Zuschläge erteilt werden. Erste neue Züge könnten dann ab 2030 auf der Stadtbahn und ab 2035 im Nord-Süd-Netz rollen. Falls das Gericht allerdings der Ansicht Alstoms folgt und entscheidet, das gesamte Vergabeverfahren zu kippen, würde dies jahrelange Verzögerungen nach sich ziehen.
Es ist nicht das erste Mal, das Alstom klagt
Beide Varianten werden von verschiedenen Seiten für weniger wahrscheinlich gehalten als eine dritte: dass das Gericht auf einzelne Kritikpunkte Alstoms eingeht und die Länder Berlin und Brandenburg die Ausschreibungsunterlagen nachbessern müssen. Je nach Umfang könnte auch dies zu Verzögerungen führen. Wirklich festlegen, wie der Vergabesenat des Kammergerichts entscheiden könnte, will sich aber niemand.
Fest steht: Es ist nicht das erste Mal, dass der französische Konzern Alstom versucht, Vergabeverfahren zu kippen. In Berlin war das zuletzt 2019 beim großen U-Bahn-Vergabeverfahren der Berliner Verkehrsbetriebe der Fall. Damals unterlag Alstom gegen Stadler und zog ebenfalls vor das Kammergericht. Ganz ähnlich lief es auch im vergangenen Sommer in München: Dort unterlag Alstom erst im Wettbewerb um die S-Bahn und dann vor der Vergabekammer Südbayern. Auch aus weiteren Regionen ist Ähnliches zu hören.
S-Bahn-Verkehr trotz Verzögerungen gesichert
Beim Kammergerichtsverfahren um die Berliner U-Bahn-Vergabe 2019 sah es für Alstom von Anfang an nicht gut aus. Die Anwälte des Konzerns konnten schon kurz nach Beginn ahnen, dass diese Verhandlung für sie womöglich kein Vergnügen werden könnte. Die Vorsitzende Richterin des Vergabesenats, Cornelia Holldorf, machte deutlich, dass das Gericht hohe Maßstäbe an die Rügen von Alstom anlegen werde. Schließlich gehe es um ein riesiges Geschäft und Alstom sei ein Milliardenkonzern mit großer Rechtsabteilung. Binnen einer Stunde hatte das Gericht alle Beanstandungen von Alstom vom Tisch gewischt.
Ob es diesmal ähnlich verlaufen wird, ist offen. Sicher ist allerdings, dass auch im Falle von weiteren Verzögerungen im Verfahren kein S-Bahn-Verkehr ausfallen wird. Mit der Deutschen Bahn gibt es für diesen Fall vertragliche Vereinbarungen, damit der Betrieb fortgeführt wird, bis gegebenenfalls ein neues Unternehmen übernimmt.
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