75 Jahre Fruchthof - Im Alter droht der "Bauch Berlins" zu schrumpfen
Der Fruchthof an der Beusselstraße wird auch als der "Bauch Berlins" bezeichnet, pro Jahr werden dort 220.000 Tonnen Obst und Gemüse gehandelt. Nun wird er 75 Jahre alt – und könnte weiter an Bedeutung verlieren, weil sich die Kaufgewohnheiten ändern.
Vier Uhr morgens. Während die meisten Berliner noch schlafen, herrscht auf dem Fruchthof seit 75 Jahren Hochbetrieb.
Gabelstapler mit Paletten sausen durch die Gänge. Mittendrin steht Bernd Paupitz. Der Wochenmarkthändler kommt seit 46 Jahren hierher, um seine Ware einzukaufen. "Guten Morgen, Tamer! Wie geht's - gut?", sagt er zum Verkäufer. "Was haben wir denn auf der Palette? Römersalat. Einmal Römersalat. Was kostet der heute?", fragt er. "Zwölf, Herr Paupitz", sagt der Verkäufer. "Na, das ist ja noch ein Preis, den man noch bezahlen kann", sagt Paupitz und schlägt ein.
Wenn hier von einem Römersalat die Rede ist, geht es übrigens um eine ganze Kiste. Wir sind schließlich auf dem Großmarkt. Weiter geht's zum nächsten Großhändler. Bernd Paupitz probiert ein paar Trauben. Er hat acht, neun Großhändler, die er schon lange kennt und denen er vertraut. Diese Beziehungen sind ihm sehr wichtig - und das ist schon seit 46 Jahren so, wie er erzählt.
Vieles hat sich aber auch verändert, die technische Ausstattung des Großmarkts zum Beispiel und das Sortiment. "Brokkoli kam Anfang der 80er Jahre als Gemüseartikel. Mein Vater hat damals immer zu mir gesagt, wir brauchen keinen Brokkoli, wir haben ja Blumenkohl oder Rosenkohl im Winter. Das ist heute ein Standardartikel", erzählt Paupitz.
Beginn in Mariendorf
Auch für den Fruchthof selbst hat sich viel verändert. Gegründet wurde die Betreibergenossenschaft 1949 als Notlösung, um die West-Berliner Bevölkerung in der Nachkriegszeit zu versorgen - zunächst von Mariendorf aus.
Als der heutige Standort an der Beusselstraße 1965 eröffnete, hatten hier Herrschaften mit Hornbrillen und Hüten das Sagen. Sie rauchten Zigarren, waren stolz auf ihre Bäuche und konnten noch ehrlich über eine Ladung Bananen staunen. Berlin war eingemauert und die alten Markthallen lagen im Ostteil der Stadt. Also schuf der Senat die "Keimzelle für die Ernährung der West-Berliner", wie sie der Regierende Bürgermeister Willy Brandt nannte. Früher gab es im Fruchthof 300 Unternehmen, heute sind es noch 100, mit sinkender Tendenz. Noch immer gehört das Gelände dem Land. Aber das Geschäft hat sich gewandelt.
Die großen Supermarktketten brauchen den Fruchthof nicht mehr
Früher kauften noch viele Berliner Supermärkte ihr Obst und Gemüse hier. Inzwischen setzen die großen Ketten wie Rewe, Edeka und Co. auf eigene Logistikzentren und der Großmarkt bleibt überwiegend außen vor. An der Beusselstraße konzentriert man sich inzwischen stärker auf die Belieferung von Großkantinen, aber auch auf gehobene Gastronomie, Hotels und Feinkostläden. Die Nische als Anlass zur Hoffnung: Spitzenrestaurants und Fachhändler, die sich von der Masse abgrenzen wollen, finden im Fruchthof eine deutlich größere Vielfalt an Sorten. Das müssen ihre Kunden dann aber auch bereit sein, zu bezahlen.
Innerhalb von drei Tagen können die Verkäufer vom Fruchthof jedes gewünschte Obst oder Gemüse zu jeder Jahreszeit besorgen, wie sie versprechen – und seien es Stinkfrüchte und Musk-Melonen. Die riesigen Mengen, die die vier großen Supermarktketten umsetzen, kann das allerdings bei weitem nicht mehr ersetzen. Die Großmärkte in Köln und Düsseldorf mussten bereits schließen.
Sanierungsbedürftige Gebäude, insolvente Händler
Auch im Berliner Fruchthof musste in den vergangenen Jahren Traditionsfirmen aufgeben, nicht zuletzt durch die Verluste während der Pandemie - Ende 2023 meldete beispielsweise der Familienbetrieb "Früchte Franz" Insolvenz an. Die Hallen des Fruchthofs sind in die Jahre gekommen, zwischen den vielen Kisten und Paletten sieht man dem Gebäude sein Alter an. Die Heizanlage ist fast 60 Jahre alt, marode und frisst viel Geld, weil die Gebäudestruktur die Wärme wegen der fehlenden Dämmung nicht halten kann. Auch der Brandschutz ist nicht auf dem Stand der technischen Möglichkeiten, die Statik der Dächer macht beispielsweise eine Sprinkleranlage unmöglich. Bei einem großen Brand wären sie wohl nicht zu retten.
Es beginnt langsam zu dämmern, als Bernd Paupitz die letzten Einkäufe macht. Um halb sechs ist er mit seinem Besuch fertig. Per Gabelstapler bringen ihm die Großhändler die Ware zu seinem LKW. Er schließt die Klappe und fährt davon.
"Lass uns das vielleicht mal probieren"
René Scheike ist etwas später dran. Der Gastronom betreibt das Restaurant Straßenbahndepot am Heiligensee in Reinickendorf. Auf dem Großmarkt sucht er nach Inspirationen für neue Gerichte. Schnell findet er ein ihm unbekanntes Gewächs. "Man steht auf einmal vor einem Produkt, das komplett artenneu ist, wahrscheinlich eine Tomate. Ziemlich interessant, hat ein schönes Aroma alleine durch die Nase. Die Konsistenz ist auch sehr schön. Jetzt habe ich aber auch Bock zu sagen, lass uns das vielleicht mal probieren", sagt er.
Diese Neuentdeckungen sind nur einer der Gründe, warum René Scheike lieber zum Großmarkt geht, als sich von den großen "Cash- und Carry"-Anbietern wie Metro beliefern zu lassen. Auch die machen dem Fruchthof Konkurrenz. Ohnehin kaufen inzwischen mehr als 85 Prozent der deutschen Verbraucher ihr Obst und Gemüse im Supermarkt, davon nochmal die Hälfte bei Discountern. Auch der Fruchthof kämpft mit dem Arbeitskräftemangel. In Zukunft wird es laut der Betreibergesellschaft noch mehr auf Technologien wie Künstliche Intelligenz und Roboter ankommen, um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu unterstützen.
Für René Scheike ändert sich nichts an den Gründen, aus denen er so oft in den Fruchthof kommt: Er sucht das Besondere - und will seine Ware vor dem Kauf anfassen und probieren. Dafür steht er auch gerne früh auf: "Der Großmarkt, der kann wirken wie ein Kaffee, ein guter Kaffee", sagt Scheike. Und das hilft morgens ja auch.
Mit Material von Jonas Pospesch
Sendung: rbb24 Abendschau, 15.09.2024, 19:30 Uhr