Uraufführung | Sardanapal an der Volksbühne - Rauschtheater ohne echten Rausch
Fabian Hinrichs wollte mit dem Schauspieler Benny Claessens den Skandalautor Lord Byron wiederentdecken. Bei der Uraufführung fehlte Claessens jedoch. Womöglich ein Eklat hinter den Kulissen. Auf der Bühne fehlte jedoch mehr als nur ein Schauspieler. Von Barbara Behrendt
"Eklat an der Volksbühne", titelt die Berliner Zeitung [berliner-zeitung.de] am Premierentag - und das ist gewagt, hatte das Theater selbst aufgrund der neuen Besetzung ohne den Schauspieler Benny Claessens doch offiziell nur gesagt: Claessens gehe es nicht gut seit dem Abend vor der Premiere. Was auch immer das heißen mag. Denn wenn jemand wegen Krankheit fehlt, fliegt er nicht gleich aus einer Produktion.
Doch genau das scheint hier vor der Uraufführung von "Sardanapal" geschehen zu sein. Fabian Hinrichs, so die Presse-Abteilung, habe bei der Generalprobe gemerkt, dass es doch auch ohne Claessens gut funktioniere.
Persönliche Abrechnung auf Instagram?
Kein Wunder also, dass spekuliert wird: Hier hat es geknallt zwischen zwei eigenständigen, selbstbewussten Künstlern. Auch, weil Benny Claessens in der Nacht vor der Premiere auf Instagram das Zitat gepostet hatte: "Mit dummen Menschen streiten ist, als würde man mit einer Taube Schach spielen wollen. Egal, wie gut du Schach spielst, die Taube wird alle Figuren umwerfen, auf das Brett kacken und herumstolzieren, als hätte sie gewonnen." Klingt nicht nach jemandem, der traurig ist, krank geworden zu sein.
Unstimmigkeiten in der Kunst: kommt vor. Vor allem bei zwei Künstlern, die sich als unabhängig, eigenständig begreifen, nicht als Erfüllungsgehilfen der Regie. Im aktuellen Fall ist Hinrichs nun eben nicht nur Schauspielkollege, sondern er stellt gleichzeitig als Regisseur, Spieler, Übersetzer, Bühnenbildner und Musiker sein Herzensprojekt vor: Lord Byrons vergessenes Drama "Sardanapal".
Byron als Inbegriff des romantisch-revolutionären Künstlers
George Gordon Byron - wer kennt noch seine Werke, oder weiß noch mehr über den britischen Dichter, als dass er Skandalautor war? Popstar des 19. Jahrhunderts? Als die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Jahr 2019 Künstler:innen befragte, welche Dramatiker:innen und Theaterstücke zu unrecht in Vergessenheit geraten seien, da schrieb Hinrichs eine Eloge [faz.net |Angebot hinter Bezahlschranke] auf "Sardanapal". Byron selbst nennt das Stück eine historische Tragödie in Blankversen. Es ist aber eher ein komisches Melodram. Byron schrieb es 1821 und widmete es Goethe, dem damals Unbekannteren von beiden.
Byron war der Inbegriff des romantisch-revolutionären Künstlers. Er hatte Beziehungen zu Frauen und Männern, vermutlich auch eine Liaison mit seiner Stiefschwester. Er schloss sich den Freiheitskämpfen in Griechenland an und starb dort mit 36 Jahren an Unterkühlung, ausgerechnet. Byron steht für schwarze Romantik, Weltschmerz und Weltuntergangsfantasien. Nach ihm wurde der "Byronismus" benannt. Der "Byronic Hero" ist ein Außenseiter und Rebell, aber auch ein Hedonist. Wie Sardanapal.
Sardanapal - der womöglich erste queere König der Geschichte
Sardanapal, der letzte assyrische König, war der Legende nach ein lustvoller Mensch, der Geliebte beider Geschlechter hatte. Der als weibisch galt, Frauenkleider trug - womöglich der erste queere König der Geschichte. Byron nun macht ihn zu einem ungewöhnlichen Herrscher, der keinerlei Interesse an Krieg, an Landgewinn, an Gewalt hat. Nicht an Macht und nicht an Ruhm. Sein Hedonismus, und das ist das Sympathische, gilt nicht nur für ihn selbst. Er gesteht allen Menschen Lust, Liebe, und die Freiheit zu, sie selbst zu sein. Darin steckt die große Sehnsucht nach einer anderen Welt, einem anderen Leben.
Nur die Welt kommt damit nicht zurecht. Das Volk verachtet ihn. Und die Rebellen möchten seinen Platz einnehmen. Das Stück handelt vom Verrat an Sardanapal und von seinem Untergang, wenn er sich von (und mit) seiner Geliebten auf einem Scheiterhaufen verbrennen lässt. Es handelt aber auch vom nahenden Ende der Welt, das Sardanapal (und auch Byron) heraufziehen sah. Eine schöne Entdeckung eines vergessenen Dramas - das Fabian Hinrichs allerdings nur skizzenhaft erzählt.
Meckerige Supermarkttristesse wird zum Schönsten des Abends
Hinrichs steht mit Textbuch auf der Bühne und spielt Benny Claessens Szenen (nicht gerade wenige) einfach mit. Das ruckelt und holpert - ein Spiel mit angezogener Handbremse. Der Abend steht im Geiste Byrons, vom Text werden nur einzelne Szenen eingestreut. Etwa, wenn sich Hinrichs und Lilith Stangenberg als König und Geliebte wie im Harem auf großen, samtenen Kissen wälzen, zusammen mit den jungen Tänzer:innen der "Flying Steps". Dazu wird dem Publikum Weißwein gereicht, um in Stimmung zu kommen.
Zunächst aber spielt der Abend ganz im Heute, im Ort des krassesten Gegensatzes zur Kunst: im Supermarkt. Lilith Stangenberg sitzt im roten Arbeitskittel an der Kasse. Vor ihr eine ewige Schlange. Und Fabian Hinrichs, der den Verkehr aufhält mit seiner Frage: "Sie schauen so abwesend, wovon träumen Sie denn?" Da sprengt Stangenberg die Realität und taucht in ihren Traum ein: wie sie sich in der griechischen Sonne aalt, wie sie mit einem schönen Mann tanzt. Dieser verzweifelte Sehnsuchtstraum inmitten der deutschen meckerigen Supermarkttristesse ist anrührend traurig und das Schönste des Abends.
"Sardanapal als bloßer Hippie-König, der gern feiert - es bleibt allzu schal"
Später träumt Hinrichs von Lord Byron. Einen wahren Traum: wie Byron im Sommer 1816, als ein Vulkanausbruch die Erde verdunkelte, mit Mary und Percy Shelley am Genfer See sitzt und das Ende der Welt heraufziehen sieht. Zitate werden an die Wand projiziert: "Essen, trinken und lieben - alles andere ist keinen Cent wert". Das soll Motto des Abends sein: Rausch, Genuss, Musik.
Tatsächlich wird viel Musik gespielt, von Franz Schubert bis Abba. Sir Henry sitzt am Flügel, zuweilen begleitet vom Jugendsymphonieorchester des Berliner Händel Gymnasiums. Das ist sympathisch, doch es ist beileibe kein rauschhaftes Theater. Sondern wirkt unfertig, zumal flacher als das Stück: Sardanapal als bloßer Hippie-König, der gern feiert - es bleibt allzu schal. Die Sehnsucht nach der Freiheit aller Menschen, die im Rausch und in der Kunst aufgeht, angesichts des Wissens, dass wir sterben müssen - davon ist hier zu wenig zu spüren.
Das Nette, das dem Abend anhaftet, ist Gift für die Inszenierung von Ekstase, Liebe, Theaterrausch. Dafür hätte es womöglich doch die exaltierte Rampensau Benny Claessens gebraucht. Und jemanden, der Hinrichs eine seiner zahlreichen Rollen abnimmt. Theater entsteht nun einmal in vielen Künstler:innenköpfen.
Sendung: rbb24 Inforadio, 22.04.2023, 7:55 Uhr