Diskussion im Berliner Festspielhaus - Muss Kunst wehtun?

Sa 06.05.23 | 10:49 Uhr
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Jürgen Kuttner bei der Fotoprobe (Quelle: dpa)
Bild: dpa

Vor 60 Jahren übernahm Erwin Piscator das neu gebaute Theater der Freien Volksbühne, das heutige Haus der Berliner Festspiele. Anlässlich des Jubiläums gab es eine Diskussion: Wie sieht das politische Theater der Gegenwart aus? Von Barbara Behrendt

Der Theaterregisseur Jürgen Kuttner, sozialisiert an der Volksbühne Ost (nicht zu verwechseln mit der Freien Volksbühne, die Erwin Piscator in Westberlin leitete), startet die zweite Gesprächsrunde zur "Gegenwart des politischen Theaters" mit einer Steilvorlage für eine brisante Diskussion.

Erst schwärmt er vom Castorf-Theater an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, das den Körper auf die Bühne zurückgebracht habe – und zwar so exzessiv, dass man bei den Vorstellungen die blauen Flecken der Schauspieler gesehen habe, die sich in den Proben verprügelt hatten.

"Die Gegenwart ist nicht satisfaktionsfähig"

Dann kritisiert er die abgebrochene Vergangenheit auf den Bühnen, die er mit seinem politischen Theater sichtbar machen möchte: "Wir leben in einer Gegenwartsgegenwart, die denkt, sie sei die einzige Zeit. Ich finde die Vergangenheit viel interessanter als die Gegenwart. Ich finde ganz oft, dass die Gegenwart überhaupt nicht satisfaktionsfähig ist. Die ist so doof, mit der beschäftige ich mich nicht, die ignorier' ich."

Schnell teilt Kuttner, indem er sich auf die Feministin Valerie Solanas bezieht, noch ein bisschen gegen die "weinerliche" Me-too-Debatte aus: "Solanas steht da und haut dir in die Fresse und hat den Sinn zu sagen: Das eigentliche Problem sind ja nicht die Männer, sondern die Frauen, die mitspielen."

Kuttner will "kein betreutes Denken"

Um dann zum Kern seiner Aussage übers politische Theater der Gegenwart zu kommen: Es sei einfach zu brav. "Antigone in Butscha", wie es gerade in Zürich zu sehen ist, sei ja ehrenwert, aber eine Auseinandersetzung mit den Widersprüchen des Menschen sei es halt nun mal nicht. "Das ist doch langweilig. Das weiß ich selber, dass die Bösen böse sind und die Guten gut", so Kuttner: "Ich finde, Theater ist heute immer so eine Versicherungsanstalt. Man geht dahin und erfährt, was man ohnehin schon weiß - Nazis sind blöde und Putin auch. Theater sollte eine Verunsicherungsanstalt sein." Man müsse sich eigene Gedanken machen. "Kein betreutes Denken", fordert der Regisseur: "Das muss immer ein Schlag in die Fresse sein, Kunst muss wehtun."

Explosiver Aufschlag, den die deutlich jüngere Regisseurin Joana Tischkau gut pariert, indem sie andere Räume öffnet. Ihre Arbeit als nicht-weiße Regisseurin zum Beispiel werde immer politisch gelesen – ob sie es so meine oder nicht: "Das ist aber nicht alles und das ist auch ein großes Missverständnis."

"Es geht ums Politische im Strukturellen"

Es sei eben eine privilegierte Perspektive, aus der heraus man schreien könne: Kunst muss wehtun. Wem müsse sie wehtun? Tischkau stellt auch die Arbeitsverhältnisse infrage, die im Panel zuvor von den großen Schauspieler:innen der Freien Volksbühne unter Hans Neuenfels beschworen worden waren: proben und saufen müssen mit dem Intendanten bis nachts um fünf – und ein paar Stunden später wieder pünktlich parat zu stehen haben: "Die Debatte ist doch, dass es gar nicht so sehr um das Politische auf der Bühne geht, sondern um das Politische im Strukturellen, in den Arbeitsverhältnissen, wie man miteinander umgeht."

Und ja, die Vergangenheit auf der Bühne verhandeln: unbedingt, sagt Tischkau. Nur: welche Vergangenheit? Der Theaterkanon von Shakespeare bis Kleist habe nun einmal wenig mit ihrer Vergangenheit und ihrer Sozialisation zu tun.

Viele verpasste Chancen

Was für ein dicker Strauß an möglichen Debatten, und das schon in den ersten 15 Minuten: Welche Stoffe und Konstellationen sind aus welchen Gründen für wen politisch? Ist das Theater zu sehr auf Gesinnungsapplaus aus? Ist es zu brav? Ist gutes Theater nur möglich durch Exzess? Verhindert das Arbeitsrecht die Kunst? Wie wird das Theater hinter den Kulissen seinem politischen Anspruch gerecht?

Doch was macht Matthias Pess, neuer Intendant der Berliner Festspiele und Moderator dieser Runde? Er geht zu den nächsten Gästen über und lässt jeden einen Monolog über die eigene Arbeit halten. Zwar hat auch Daniel Wetzel vom Theaterkollektiv Rimini Protokoll Aufschlussreiches über dokumentarisches Theater zu sagen – doch die Möglichkeiten zur Diskussion ziehen ungenutzt vorüber. Was Joana Tischkau dann auch treffend kommentiert: "Vielleicht habe ich die Aufgabe nicht richtig verstanden? Jeder von uns hat den Job, zehn Minuten zu monologisieren?"

Ohnehin fragt man sich, warum Matthias Pees, sozusagen als Nachnachnachfolger von Erwin Piscator im selben Haus, nicht selbst etwas über die Gegenwart des politischen Theaters bei den Berliner Festspielen sagen möchte, sondern sich stattdessen auf die Moderatorenrolle zurückzieht. Dem Anspruch einer Kulturinstitution dieses Ranges wird das Gespräch jedenfalls nicht gerecht.

Sendung: rbb24 Inforadio, 06.05.2023, 7 Uhr

2 Kommentare

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  1. 2.

    Ist das Kunst oder kann das weg?

  2. 1.

    Probleme die keine sind und für die große Mehrheit der Bevölkerung nicht die geringste Relevanz haben....
    Aber schön, wenn die Kulturschaffenden um sich selbst kreisen, natürlich hoch subventioniert von der Allgemeinheit.

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