Konzertkritik | Sticky Fingers in Berlin - "Hey Motherfuckers!"
Die Sticky Fingers sind in ihrer australischen Heimat so erfolgreich wie umstritten. Entziehungskuren, Prügeleien und fünf erfolgreiche Alben zeichnen ihre Biografie. Auch ihr Auftritt im Berliner Tempodrom war alles andere als normal. Von Hendrik Schröder
Also ganz ehrlich: Die Sticky Fingers sind eine ungewöhnliche Band. Seltsam könnte man auch sagen. Da ist erst mal der Anfang dieses Konzerts im Tempodrom. Der Keyboarder kommt, nachdem man die Fans ganz schön lange hat warten lassen, alleine auf die Bühne und trägt nichts als Schuhe und Badehose. Überzeichnet psychotisch ruft er ein "Hello Berliiiin" in das Mikrofon und schießt dann, warum auch immer, einen Fußball in die Menge.
Dann stolziert er zu seinen Tasteninstrumenten und sieht mit seinem stattlichen Bauch aus wie die Karikatur einer Figur aus einem Italo-Beach-Film der 1980er Jahre. Dann kommen die anderen und los geht's.
Der Hut verdeckt das Gesicht
Auch Sänger Dylan Frost ist echt ein Vogel. Was jetzt aber gar nicht böse gemeint ist. In schwarzem Ledermantel steht er leicht gekrümmt vor dem Mikro, eine Flecktarnhose an den Beinen, einen riesigen Sonnenhut auf dem Kopf, so dass man von der Seite beim besten Willen nicht sein Gesicht erkennen kann und nur einen schwarzen Bart vor dem Mikro rumhoppeln sieht.
Seine Ansagen beschränken sich auf ein paar freundlich beleidigende "Hey Motherfuckers" gen Fans, Bassist Paddy Cornwall soll später noch darüber sinnieren, ob die Kuppel des Tempodroms nicht aussieht wie ein Rektum. Nun ja. Viel mehr erzählen sie nicht, ist vielleicht auch besser so.
Plötzlich ist der Sänger weg
Dann verschwindet Sänger Frost nach drei, vier Songs schon wieder und der Keyboarder murmelt etwas von Planänderung. Menschen rennen hektisch hinter der Bühne hin und her, plötzlich stehen noch mehr langhaarige Gitarristen auf der Bühne und der Basser singt den nächsten Song. Wie gesagt, ein seltsamer Haufen.
Doch dann kommt der Sänger zurück, jetzt ohne Hut und Mantel. Er brunzt und leidet und rotzt und flüstert ins Mikrofon - und jetzt erst wird langsam klar, was für eine geile Band die Sticky Fingers sind. Dieses Sound-Gemisch aus Reggae und Sunshine, gepaart mit einer wilden und gefährlich wirkenden Rock'n'Roll-Attitüde, dann diese psychedelischen, wabernden Parts, das alles ist schon ziemlich cool, tanzbar, spannend und mitreißend.
Immer noch umstritten
In Australien ist die Band übrigens hoch umstritten. Anfang des Jahres wurde sie nach Boykott-Aufrufen von einem großen Festival ausgeladen, weil Sänger Frost vor ein paar Jahren bei einem Konzert rassistische Beleidigungen gebrüllt haben und gegenüber einer Musikerkollegin handgreiflich geworden sein soll.
Die Sticky Fingers pausierten nach dem Vorfall damals zwei Jahre lang, Dylan Frost sprach öffentlich über seine Alkoholsucht und seine bipolare Störung, ging in Therapie und entschuldigte sich zwar unbeholfen, aber vielfach und öffentlich.
Aber man verzieh ihm bis heute nicht. Immer noch gelten die Sticky Fingers in ihrer Heimat als Bad Boys, als unangenehme Zeitgenossen, die gar nicht schnallen, was sie falsch machen. So liest man es zumindest in Musikzeitschriften aus Down Under.
Interessant allemal
Vor zwei Jahren dann gerieten Sänger und Bassist nach einem stundenlangen Saufgelage derart in Streit, dass der Bassist dem Sänger mehrfach gegen den Kopf schlug und beide eine Bewährungsstrafe bekamen. Beide gingen erneut in den Entzug, gelobten Besserung. Kann man sich ja nicht ausdenken, solche Geschichten.
An diesem Abend in Berlin scheinen aber alle Streits beigelegt und auch wenn die Band zwischen den Songs manchmal scheinbar planlos über die Bühne eiert wie Hühner im Sonntagsmodus und jeder noch mal ein Schlückchen trinkt oder etwas ins Ohr flüstert oder wirklich ganz woanders hinschaut: Wenn der Drummer vier vorzählt, sind sie alle da wie aus dem Nichts.
Und das noch ziemlich junge Publikum (hatten die noch mal einen Tiktok-Hit?) auch, feiert jeden Track, hebt die Hände, brüllt und schreit. Für die ganz große Ausflipperei ist die Distanz zwischen Band und Publikum dann vielleicht doch zu groß und auch der Sound etwas zu undifferenziert, aber ein sehr interessanter Abend war das allemal.
Sendung: rbb24 Inforadio, 03.07.2023, 5 Uhr