Interview | Musical "Irena" - Kann man über den Holocaust singen und tanzen?
Sie schmuggelte tausende jüdische Kinder aus dem Warschauer Ghetto und rettete so ihr Leben: Irena Sendler. Ein Musical im Admiralspalast erzählt nun ihre Geschichte. Bei der Aufführung wird auch Elzbieta Ficowska, eines der geretteten Kinder, dabei sein.
rbb: Frau Ficowska, Sie wurden im Warschauer Ghetto geboren und von Irena Sendler vor den Nazis gerettet. Welche Bedeutung hat die Protagonistin des Musicals "Irena" für Sie?
Elzbieta Ficowska: Irena hat eine große Bedeutung für mich, weil ich sie mein ganzes Leben lang kannte. Sie war eine wunderbare Frau mit Charakter, sie war sehr entschlossen. Wäre sie anders gewesen, hätte sie nicht tun können, was sie tat. Sie wusste, was sie wollte, und sie wusste, wie sie es erreichen konnte.
Das Musical erzählt die heldenhafte Geschichte von Irena Sendler, die auch Ihre Rettung organisierte, als Sie sechs Monate alt waren und Sie bei einer Pflegemutter unterbrachte.
Irena Sendler hat immer gesagt, sie sei keine Heldin. Das hat meine Mutter auch gesagt. Sie haben einfach das getan, was jeder anständige Mensch in dieser Situation tun sollte. Es war also nichts Außergewöhnliches dabei. Aber natürlich war es das, denn man musste schon ein Held sein, um sich und seine ganze Familie in Todesgefahr zu bringen, nur um einen anderen Menschen zu retten. Irena sah das nicht so. Sie hatte keine Angst. Und meine Mutter auch nicht.
Können Sie uns etwas über Ihre Rettung erzählen?
Ich bin angeblich das jüngste Kind, das in dieser Zegota-Aktion, der Aktion zur Rettung von Kindern, gerettet wurde. Ich weiß, dass eine Holzkiste mit Atemlöchern zugenagelt wurde. Und es gab einen Bestatter, der Ziegelsteine aus dem Ghetto holte. Er hat die Kiste genommen und sie auf einen Karren zwischen die Ziegelsteine gelegt. So kam ich auf die "arische" Seite und lebte viele Jahre friedlich und glücklich, ohne eine Ahnung von meiner Vorgeschichte zu haben. Meine Pflegemutter war darauf bedacht, dass ich es nicht erfahre. Sie hat mich sehr geliebt.
Wie haben Sie von Ihrer Geschichte erfahren?
Ich habe eine offizielle Geburtsurkunde, die meine Pflegemutter nach dem Krieg gemacht hat, als die Ämter ein Chaos waren. Und in dieser Urkunde bin ich die Tochter meiner Pflegemutter, als Vater ist ihr zweiter Mann eingetragen. Der ist aber zwei Jahre vor meiner Geburt gestorben. Das habe ich entdeckt, als ich mit meiner Pflegemutter an seinem Grab auf dem Friedhof war. Ich war damals 14 Jahre alt.
Wissen Sie, was mit Ihren leiblichen Eltern passiert ist?
Sie sind gestorben. Meine Mutter ist in Poniatowa im Lager gestorben. Sie war erst 24 Jahre alt, als sie ermordet wurde. Mein Vater hat angeblich am Umschlagplatz gesagt, dass er nicht in den Zug einsteigen will, weil er seine kleine Tochter zurückgelassen hatte. Und dann wurde er erschossen.
Es sind diese tragischen Schicksale, die nun auch im Musical "Irena" gezeigt werden. Was halten Sie davon, dass diese Geschichten mit Gesang und Tanz auf die Bühne gebracht werden?
Irgendwo in meinem Inneren habe ich mir gedacht: Wie kann man über den Holocaust singen und tanzen? Es stellt sich heraus, dass man das kann. Es gibt in dem Stück ein sehr gut geschriebenes Libretto. Es ist eine großartige Aufführung und ich habe sie mir mit Genugtuung angesehen.
Die Tatsache, dass es sich um eine Form der Popkultur handelt, ist eine gute Sache. Sie kommt bei den Menschen an. Es ist wichtig, dass es alle erreicht. Denn Geschichtsinteressierte, die historische Studien lesen, gibt es nicht mehr viele. Und der Rest von uns weiß nicht viel über den Holocaust.
Auch Sie selbst sind Teil der Aufführung.
Der Regisseur hat darum gebeten, dass ich am Ende des Musicals auf die Bühne gehe, damit das Publikum sehen kann, dass es keine bloße Geschichte ist. Ich komme als eine Person heraus, die in diesem Musical lebt und sich plötzlich materialisiert. Diese Person ist da, sie lebt. Man kann sie berühren, kneifen, fragen – und sie wird antworten.
Bislang wurde das Musical nur in Polen gezeigt. Wie ist es für Sie, dass die Aufführung nun auch nach Deutschland kommt?
Ich erlebe immer wieder, dass junge Deutsche Schuldgefühle gegenüber ihren Vorfahren haben. Sie brauchen keine Schuldgefühle haben, aber sie müssen wissen, was passiert ist. Und ich vermute, es gibt viele, die es nicht wissen.
Man kann nicht verzeihen, denn nur die Opfer können verzeihen. Und die Opfer sind nicht mehr da. Ich habe also kein Recht, den Deutschen zu verzeihen, was sie meiner Familie angetan haben. Andererseits habe ich mich immer erfolgreich gegen den Hass gewehrt. Es ist kein Hass in mir, und ich schaue mit Zärtlichkeit und Mitgefühl auf diese jungen Menschen, die sich immer noch schuldig fühlen, obwohl sie sich nicht schuldig fühlen sollten.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Anne Kohlick für rbbKultur - das Magazin.
Sendung: rbbKultur – das Magazin, 04.05.2024, 18:30 Uhr.