Briefe-Lesung in der Philharmonie - Erstaunlich kurzweiliger Abend

Do 27.06.24 | 12:59 Uhr | Von Jens Lehmann
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Symbolbild:Blick auf Philharmonie und Kammermusiksaal, Kulturforum, Kemperplatz.(Quelle:picture alliance/Eibner-Pressefoto/I.Schulz)
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Audio: rbb24 Inforadio | 27.06.2024 | Jens Lehmann | Bild: picture alliance/Eibner-Pressefoto/I.Schulz

Briefe zu schreiben ist außer Mode gekommen. Sie zu lesen hat aber nie seinen Reiz verloren. Bei "Letters Live" tragen Prominente unterschiedlichste Briefe vor. Die Deutschland-Premiere in der Berliner Philharmonie hat Jens Lehmann meist überzeugt.

Seit mehr als zehn Jahren gibt es "Letters Live" schon. 2013 hat alles in einem kleinen Theater in London angefangen. Vor 200 Leuten. Als Marketing-Gag zur ersten Druckausgabe der "Letters of Note". Gründer Shaun Usher hatte die einfache wie brillante Idee: Warum lasse ich nicht ein paar dieser ungewöhnlichen Briefe in meiner Sammlung von berühmten Schauspielern live vorlesen?

Inzwischen strömen jedes Mal 6.000 Leute zu "Letters Live" in die berühmte Royal Albert Hall in London, um Menschen wie Benedict Cumberbatch oder Oscar-Preisträgerin Olivia Colman oder Stephen Fry oder Nick Cave teils absurde Briefe lesen zu sehen und zu erleben.

Prominente lesen Briefe vor

Die Videos dieser Shows sind selbst zu Internet-Hits geworden und haben es inzwischen auch in meinen Instagram-Feed geschafft. Anders hätte ich wohl nicht von der Deutschland-Premiere in der Berliner Philharmonie erfahren.

Viel Werbung wurde jedenfalls im Vorfeld nicht gemacht. Wenn eines der wichtigsten Merkmale der Veranstaltung auch noch die "top secret performers" sind, also die streng geheimen Stargäste, dann kann man sich vielleicht schon vorstellen, warum der große Saal der Philharmonie nur mit Mühe zur Hälfte gefüllt war: Für bis zu 120 Euro kauft man nicht unbedingt die Katze im Sack.

Benedict Cumberbatch war jedenfalls nicht da. Obwohl mit seinem Konterfei und einem seiner Londoner Videos auch für die Berliner Premiere geworben wurde. Ein paar Tage zuvor wurden wenigstens ein paar der Vorlesenden verraten. Zwei der prominentesten, Christian Brückner und Devid Striesow, kamen dann gar nicht. Aber auch so konnte sich die Liste sehen lassen: Sebastian Koch, Sabin Tambrea, Anke Engelke, Iris Berben, Claudia Michelsen oder Mark Waschke – die deutsche Film- und Fernsehprominenz war gut vertreten.

"Zauber der Briefe"

Das Publikum sitzt also in feinster Abendrobe um die Bühne herum, darauf nicht viel mehr als ein Rednerpult, aus dem Off wird kurz die Vorgeschichte zu einem Brief erzählt: Von wem er ist und wann in welcher Lebenslage wurde er an wen geschrieben? Dann kommen die Schauspielerinnen und Schauspieler nach vorne, ein einzelner Spot geht an, strahlt auf das Pult, sie lesen den Brief – und Abtritt. Drei Stunden lang. Nur unterbrochen durch vier kurze musikalischen Zwischenspiele von Jesper Munk und Ibadet Ramadani.

Und doch ist es ein erstaunlich kurzweiliger Abend. Ist das der "Zauber der Briefe", den einer der Produzenten in einem kurzen Grußwort beschworen hat? Es ist jedenfalls herrlich, Sabin Tambrea dabei zu beobachten, wie er beim Lesen des ersten Briefs des Abends wieder zu Franz Kafka wird, wie er leicht stalker-haft Felice Bauer fragt, wie viele seiner Samstags-Briefe sie denn nun bekommen habe, und ob er ihr noch telegraphieren solle.

Sebastian Koch liest raunend einen Liebesbrief von Erich Maria Remarques an Marlene Dietrich, in dem er bis auf die letzte Paillette am Kleid imaginiert, was sie sich wohl gerade anzieht. Anke Engelke zeigt auch mal ihre ernste Seite und liest still und ernst den Abschiedsbrief von Virginia Woolf, den sie in ihrer Manteltasche hatte, als man sie nach ihrem Selbstmord aus einem englischen Fluss geborgen hat.

Höhepunkt ist für mich aber Christine Becker, die Witwe von Jurek Becker, die ein paar der Postkarten vorliest, die an sie selbst gerichtet waren. Das sind kleine Liebesbeweise mit herrlichen Städte-Portraits und wechselnden Anreden wie "Du alter Mietspiegel“, "Du alte Biokarotte" oder "Du süße Blutwurst". Zum Schmelzen.

Archivbild:Taron Egerton liest "Letters Live" beim Wilderness Festival am 05.08.2023.(Quelle:imago images/M.Anton-Smith/Avalon)
Taron Egerton liest "Letters Live" beim Wilderness Festival am 05.08.2023. | Bild: imago images/M.Anton-Smith/Avalon

Lust aufs Briefeschreiben

"Letters Live" ist genau in diesen authentischen Momenten am besten: Wenn Menschen Briefe lesen, die sie entweder selbst geschrieben oder bekommen haben. Auch Alltagsbeobachtungen wie der Beschwerdebrief eines von der benachbarten Toilette genervten Flugzeug-Passagiers oder Briefe aus dem Literaturkanon reißen das Publikum merklich mit.

Wenn Anke Engelke allerdings – mit dem Mikrofon und der erstaunlich schlechten Akustik kämpfend – die Antworten der US-Komikerin Tina Fey auf ihre Internet-Hasser in deutscher Übersetzung und voller Anspielungen auf hierzulande eher unbekannte amerikanische TV-Formate vorliest, dann steigt man schnell aus.

Aber dafür sind Deutschland-Premieren ja auch da: Zum Ausprobieren. Und Lust aufs Briefeschreiben habe ich jetzt auch wieder!

Sendung: rbb24 Inforadio, 27.06.2024, 07:55 Uhr

Beitrag von Jens Lehmann

1 Kommentar

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  1. 1.

    Das ist so toll. Wer das einmal in der Royal Albert Hall in London erlebt hat, will das wieder erleben. Für hier kann ich mir das auch sehr gut vorstellen. Auch dort sind die Eintrittskarten nicht gerade günstig...aber der Erlös geht an Wohltätigkeitsorganisationen. Ist das hier auch so? Auf jeden Fall sind die Videos immer und immer wieder erstklassig. Gibt es das dann hier auch für den kostenlosen Genuss? Wäre zu hoffen.

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