Ausstellungskritik | "Wirtschaftswerte" im Hamburger Bahnhof - Doppelter Standard

Fr 08.11.24 | 08:39 Uhr | Von Julia Sie-Yong Fischer
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„Andrea Pichl. Wertewirtschaft“, Ausstellungsansicht Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, 8.11. – 4.5.2024 © Andrea Pichl / VG Bild-Kunst, Bonn 2024 / Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin / Jacopo La Forgia „Andrea Pichl. Wertewirtschaft“, Ausstellungsansicht Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, 8.11. – 4.5.2024 © Andrea Pichl / VG Bild-Kunst, Bonn 2024 / Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin / Jacopo La Forgia
Bild: © Andrea Pichl / VG Bild-Kunst, Bonn 2024 / Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin / Jacopo La Forgia

Harmlos aussehende Einrichtungsgegenstände der DDR können gesellschaftliche Privilegien und Unterdrückung verkörpern. Die Künstlerin Andrea Pichl zeigt, was das standardisierte Eigenheim über Politik, Ökonomie und menschliche Bedürfnisse verrät. Von Julia Sie-Yong Fischer

Andrea Pichls Skulpturen sind schon beim Betreten der hellen, luftigen Kleihueshalle nicht zu übersehen. Vier fast gleiche, schwarze Holzhäuser sind so dicht nebeneinander in einem sich spiegelnden Grundriss aufgebaut, dass es zwischen ihnen eng wird. Sie dienen gleichzeitig als Ausstellungsräume, in denen die Künstlerin im Berliner Museum Hamburger Bahnhof Zeichnungen, Fotos und Drucke installiert hat. Durch ihre monochrome Gestaltung schlucken sie das Licht und erscheinen wie übergroße "Black Boxes" oder kleine Ausstellungshöhlen.

Die Stasi macht Yoga

Die Künstlerin klärt auf, dass es sich hierbei um standardisierte Fertigbauten aus dem Katalog der Genex Geschenkdienst GmbH des Außenhandelsministeriums der DDR handelt. Westdeutsche mit dem entsprechenden Kleingeld hatten über die Genex die Möglichkeit, ihren Verwandten oder Freund:innen in der DDR Lebensmittel, Reisen, Küchengeräte, Autos oder eben auch Häuser zu bestellen. Dieses System diente dazu, der DDR-Regierung Devisen in frei konvertierbarer Westmark zu verschaffen. Anhand dieser Gegenstände wurde für viele deutlich, dass trotz des sozialistischen Ideals der gesellschaftlichen Gleichheit im Alltag unterschiedliche Privilegien sicht- und dadurch spürbar wurden.

Auch Pichls Arbeit "Die Staatssicherheit der DDR" (2024) im ersten Bungalow verdeutlicht diese Ambiguität. Die vergrößerte Archivfotografie einer angeleiteten Sportstunde zeigt Mitarbeitende der Stasi, die sich bemühen, einen froschähnlichen Kopfstand zu halten. Neben ihnen stehen ganz beiläufig bunte Vasen, die die Künstlerin auf Flohmärkten in Mecklenburg erwarb. Auch wenn die Yogaszene im ersten Moment ulkig wirkt, hinterlässt ihr Anblick einen bitteren Beigeschmack angesichts des Wissens um Repressionen der Geheimpolizei, unter denen auch die Künstlerin selbst damals gelitten hat.

„Andrea Pichl. Wertewirtschaft“, Ausstellungsansicht Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, 8.11. – 4.5.2024 © Andrea Pichl / VG Bild-Kunst, Bonn 2024 / Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin / Jacopo La ForgiaYoga-Übungen neben Vasen

Politischer Stoff

Im Nachbarhaus erzeugt der politische Kontext der Arbeit "Stasizentrale" (2020/21) erst auf den zweiten Blick Unbehagen: Mehrere mit Buntstift gezeichnete Details von Interieuren wie Teppiche, Zimmerpflanzen und Lampen hängen auf Raufaser- und Mustertapeten. Eine angefertigte Kopie einer Karteikarte sticht dabei heraus. Darauf abgebildet ist die von Staatssicherheitschef Erich Mielke verlangte Anordnung seines Frühstückstabletts inklusive der gewünschten Position der "Kaffeeflasche" sowie der genauen Zubereitung seines Frühstückeis. Eine vermeintlich belanglose Anweisung, die mit Wissen um Mielkes Machenschaften Hierarchien freilegt, die in der Beschaffenheit des gezeichneten Mobiliars verborgen zu schlummern scheinen.

Wer zu den hinteren zwei Bungalows gelangen möchte, muss durch einen deckenhohen Vorhang hindurch. Dieser ist aus vielen verschiedenen, meist floral bemusterten Stoffen zu einer raumhohen Patchworkfläche zusammengenäht worden. "Lass die Blumen sprechen" (2024) erzählt einerseits von der massentauglichen Heimästhetik, andererseits aber auch von dem sozioökonomischen Hintergrund der DDR-Textilindustrie. Ihre Produktion wurde vor allem von Frauen, die mit niedrigen Löhnen bezahlt oder Frauen, die im Gefängnis zu Zwangsarbeit verurteilt wurden, getragen.

Die Wende

Hinter dem Vorhang fokussiert sich Pichl stärker auf grundsätzliche ästhetische Fragen und die menschliche Aneignung von Wohnraum. In einem der zwei hinteren Bungalows zeigt sie Fotos aus ihrem persönlichen Archiv, die ausgewählte Fassadenansichten von in- und ausländischer Wohnbauten zeigen. In dem anderen tapeziert sie den Raum mit einer Anleitung für den Aufbau eines Modellhauses ("Der verwirklichte Wochenend-Traum"), auf die sie weitere Buntstiftzeichnungen mit Faltenwürfen oder Plattenbaubalkonen hängt.

Obwohl die Arbeiten menschliche Wünsche nach Dekoration und Sicherheit repräsentieren, fehlen lebendige Figuren in ihren Darstellungen. Doch ihre Präsenz scheint sich dadurch eher zu verstärken. Könnten wir selbst diese Personen sein, die hinter den Gardinen neben Zimmerpflanzen wohnen?

Andrea Pichl, Zeichnung aus der Serie „Stasizentrale 1-30“, 2020/21 Buntstift auf Papier, 29,7 x 21 cm © Andrea Pichl / VG Bild-Kunst, Bonn 2024Zeichnung aus der Serie "Stasizentrale 1-30"

In diesem Teil der Ausstellung lässt sich tatsächlich eine Art Wende spüren, die den DDR-Bezug hinter sich lässt. Die Künstlerin selbst betont gleich zu Beginn der Führung, dass es ihr ein Anliegen sei, die DDR weder zu verharmlosen noch zu verklären. Und es gelingt ihr auch, in der manchmal lustigen Harmlosigkeit eben auch kritische Töne anzuschlagen.

Wann Pichl Alltagsgegenstände und Archivmaterial zu Kunstwerken erklärt oder wann sie selbst künstlerische Eingriffe vornimmt, ist manchmal schwer nachzuvollziehen. Aber wer sich völlig unromantisch mit Ästhetik (auch) aus der DDR beschäftigen möchte und keine Angst vor gelegentlich komischem und kritischem "Mief" hat, wird in dieser Ausstellung bestimmt nicht enttäuscht werden.

Sendung: Radio3, 07.11.2024, 16:00 Uhr

Beitrag von Julia Sie-Yong Fischer

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1 Kommentar

  1. 1.

    So ist es wohl: Das oft nur oberflächlich und sehr grob fassbare "Große" verbirgt sich im unzähligen und tausendfach präziseren "Kleinen". Wer Anfang der 1990er mit offenen Augen die Ästhetik in beiden deutschen Staaten kennengelernt hat, erfuhr dadurch fast mehr als durch das Lesen profunder Bücher oder ausgestellten Stasi-Akten, die ja auch TEIL der DDR-Wirklichkeit waren.

    Danke für eine solche Aussstellung !

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