Theater | "Der Garten der Lüste" im Haus der Berliner Festspiele - Die Winzigkeit des Menschen

Der französische Regisseur Philippe Quesne nimmt Hieronymus Boschs mittelalterliches Triptychon "Der Garten der Lüste" zum Ausgangspunkt, um über eine alternative Zivilisation nachzudenken. Ein poetischer, aber auch zäher Abend. Von Barbara Behrendt
Ein nackter Mann, der auf einem Rotkehlchen reitet. Eine nackte Frau, die ihre Arme um eine gigantische Erdbeere schlingt. Ein Pärchen, auf dem Gras liegend ins Gespräch versunken – er trägt eine Pflaume statt eines Kopfs. Daneben ein Mann, der einem anderen liebevoll einen Blumenstrauß in den Hintern pflanzt.
Vor Hieronymus Boschs wunderbar skurrilem Wimmel- und Rätselbild "Der Garten der Lüste" aus dem späten 15. Jahrhundert kann man stundenlang stehen und immer noch etwas Neues entdecken. Hunderte winzige Menschen sind darauf zu sehen, schwarz und weiß, alle nackt, alle gleich, in friedlichem Zusammenleben mit Tieren und Fabelwesen in verschrobenen Größendimensionen.
Die Gemeinschaft huldigt dem Ei
In Philippe Quesnes gleichnamigem Theaterstück, das beim Festival in Avignon 2023 Premiere feierte und nun im Haus der Berliner Festspiele gastiert, ist das Gemälde zwar nicht zu sehen, doch im Laufe des Abends häufen sich die Bezüge. Eine übergroße Erdbeere liegt am Bühnenrand. Die Szene mit einer Miesmuschel, die einen Menschen versteckt, ist dem Bild entnommen. Und vor allem huldigt die Bühnen-Gemeinschaft einem gigantischen Ei, unten offen und leer, sodass man hineinkriechen könnte. Ein deutlicher Verweis auf die Muschelhäuser und Schalengebilde bei Bosch.
Der größte Unterschied zum Bild ist aber, dass die Protagonisten des Abends einem alten weißen Reisebus entsteigen – den findet man bei Bosch mit Sicherheit nicht. Das rückt die Inszenierung allerdings nicht zwangsläufig in die Gegenwart. Die Arbeiten des französischen Regisseurs und Bühnenbildners Phillipe Quesne sind meist zeitlose, poetische, philosophische, leicht skurrile Abende, die mit Traumbildern arbeiten und keine konkrete Handlung haben. So auch hier.

Aus der Zeit gefallene Exzentriker:innen
Die Reisegruppe, die mit dem Bus in einer Wüste gestrandet ist, sieht aus wie eine 1960er Jahre Hippie-Kommune, die auf dem Weg noch ein paar Cowboys und Musiker:innen aufgegabelt hat. Aus der Zeit gefallene exzentrische Individualisten sind sie allesamt. Der spindeldürre Poet mit den Haaren bis zum Hintern. Der Vintage-Gitarrist mit den orangefarbenen Brillengläsern.
Es passiert nicht viel mehr an diesem Abend, als dass die Künstler:innen sich in einem Redekreis versammeln und einander Werke vortragen: einer rezitiert ein Shakespeare-Sonett auf dem Dach des Busses, ein anderer zupft Cello und singt eine Purcell-Arie, eine Frau im Country-Look dudelt auf der Blockflöte.
Die Utopie von der friedlichen Gemeinschaft
Mit den später folgenden Texten kommen philosophische Deutungsansätze hinzu – auch zur Interpretation des Bildes. Boschs Triptychon besteht aus Garten Eden, Hölle und dem großen Garten der Lüste dazwischen. Dass dieser irritierend-bezaubernde Garten, in dem alle Hautfarben und Geschlechter friedlich zusammenleben, von Bosch als irdischer Sündenpfuhl gemeint gewesen sei, wie es Kunsthistoriker lange gedeutet haben, ist nicht wirklich haltbar. Philippe Quesne zitiert einen flämischen Mystiker: Bosch zeige nicht die Wollust, sondern die Winzigkeit der Menschen.
Und der Regisseur führt diese kleinen Menschenwürmchen im Universum nun in einer utopischen Gemeinschaft vor. Jede Kleinigkeit wird demokratisch abgestimmt – sogar, ob es in Ordnung sei, nun in einem "Rede-Oval" zu sitzen, statt in einem "Redekreis". Das hat eine gewisse Situationskomik.
Es werden Texte von George Perec und Dante gesprochen, die von der Ewigkeit handeln, von der Hölle, von Liebe, Hass, Vergebung. Alles, was den Menschen seit Jahrtausenden umtreibt. Dazu werfen die Figuren interessante Fragen ein, etwa: "Sind Sie sicher, dass die Erde nicht die Hölle eines anderen Planeten ist?" Man befindet sich im Kreis einer alternativen utopischen Zivilisation, die offensichtlich der Kunst verschrieben ist – und die den richtigen Weg in die Zukunft sucht.
Allgemeiner Stillstand
Im Vergleich zu den beinahe ärgerlich flachen Arbeiten von Philippe Quesne, die in den vergangenen zehn Jahren in Berlin gezeigt worden sind, bietet dieser Abend zumindest schlüssigere Deutungsangebote und einiges an theoretischem Überbau. Auch die kleinen, komischen Momente und poetischen Bildideen sind hübsch. Und doch zelebriert die Performance ein wenig zu sehr den allgemeinen Stillstand ihrer in der Wüste gestrandeten Gemeinschaft.
Die Lieder, Gedichte und Rezitationen dehnen sich und stehen recht beliebig nebeneinander. Das erinnert an die Langsamkeit und Ereignislosigkeit bei Christoph Marthaler, dem großen Schweizer Musiktheatermann – allerdings sitzen bei Marthaler Timing und Komik deutlich besser. Bei aller Poesie und Utopie hat Philippe Quesne mit dem "Garten der Lüste" einen doch recht zähen Abend inszeniert.
Sendung: rbb24 Inforadio, 27.11.2024, 07:40 Uhr
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