Rechtsextreme Anschlagsserie in Berlin-Neukölln - Erstes Urteil im Prozess gegen Neonazis erwartet

Do 15.12.22 | 06:03 Uhr | Von Jo Goll
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Symbolbild: «SAAL B 129» steht vor dem Raum (Quelle: dpa/Annette Riedl)
Bild: dpa/Annette Riedl

Im Berliner Prozess um den sogenannten "Neukölln-Komplex" wird am Donnerstag ein erstes Urteil erwartet. Nach einer schwierigen Beweisführung könnte einer der angeklagten Neonazis freigesprochen werden. Von Jo Goll

  • Ein Tatverdächtiger könnte aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden.
  • Der sogenannte "Neukölln-Komplex" führte jahrelang zuTerror im Süden Berlins.
  • Polizisten konnten als Zeugen vor Gericht nicht überzeugen.

Seit Wochen bietet sich den Prozessbeobachtern im Saal B 129 das gleiche Bild: Die beiden angeklagten Rechtsextremisten Tilo P. und Sebastian T. verfolgen das Geschehen weitgehend regungslos. Ab und an ein kurzes Geflüster mit ihren Verteidigern, ansonsten wirken die beiden Angeklagten eher gelangweilt, wenn etwa Opfer der Anschläge als Zeugen von ihren Ängsten berichten.

Die Aussagen der ermittelnden Polizisten verfolgen die beiden dagegen zumeist schmunzelnd, wenn ihre Anwälte die Ermittler mit bohrenden Fragen dazu bringen, Lücken in der Beweisführung preiszugeben.

Unsicherheit im Zeugenstand

In der vergangenen Woche wurde vor Gericht ein Polizei-Video präsentiert, auf dem mutmaßlich einer der Angeklagten dabei zu sehen sein soll, wie er gemeinsam mit einem anderen Mann eine Drohung an einen Hauseingang sprüht. Ein Ermittler will den angeklagten und mehrfach vorbestraften Neonazi Sebastian T. auf dem grisselligen schwarz-weiß Video mit dürftiger Bildqualität "zweifelsfrei identifiziert" haben.

Im Verlauf seiner Aussage muss er jedoch einräumen, dass er und seine Kollegen den anderen Rechtsextremisten zunächst mit einer anderen Person verwechselt hatten. "Wie können Sie sich dann sicher sein, meinen Mandanten hier erkannt zu haben", fragt prompt der Verteidiger von Sebastian T. Die schlechte Bildqualität des Videos beantwortet die Frage fast von selbst.

Anschlagsserie sorgte über Jahre für schlaflose Nächte

Der sogenannte "Neukölln-Komplex" sorgte im Süden Berlins jahrelang für Angst und Schrecken: 23 ausgebrannte Autos, eingeworfene Fensterscheiben, Morddrohungen an Häuserwänden. Eine kleine, aber militante Gruppe von jungen Neonazis brachte Bürger, die sich gegen Rassismus und Rechtsextremismus engagieren, um den Schlaf.

Nach einer Reihe von schweren Ermittlungspannen der Sicherheitsbehörden, die immer wieder für Schlagzeilen sorgten, schaffte es die Generalstaatsanwaltschaft Berlin, zwei mutmaßliche Täter im August dieses Jahres vor Gericht zu bringen. Doch die Anklage ist möglicherweise nicht fundiert genug. Sie besteht überwiegend aus Indizien. Das könnte nun dafür sorgen, dass zumindest einer der beiden Hauptangeklagten den Gerichtssaal als freier Mann verlassen wird.

Ein Indiz ist, dass die Ermittler kurz nach der angeklagten Brandstiftung auf das Auto des Linken-Politikers Ferat Kocak in der Nacht zum 1. Februar 2018 Google-Maps-Screenshots auf dem beschlagnahmten Rechner von Tilo P. fanden. Diese belegen, dass sich P. das Grundstück der Familie Kocak und die die örtlichen Gegebenheiten im Netz genau angesehen hatte. Wenige Tage später brannte das Auto des damaligen Bezirkspolitikers. Zudem fanden die Beamten eine Sturmhaube auf P’s Küchentisch. Das alles sind aber keine Beweise, so formulierten es die Verteidiger immer wieder geschickt vor Gericht.

Serie von Ermittlungspannen

Die Angeklagten hatten Kocak zuvor über ein Jahr lang regelrecht ausspioniert und ihn so lange verfolgt, bis sie wussten, wo er wohnt und was für ein Auto er fährt. Der Verfassungsschutz und mitunter auch das Berliner Landeskriminalamt (LKA) hörten damals mit. Mitschnitte abgehörter Telefonate, die rbb24-Recherche vorliegen, belegen dies. Doch die Ermittler warnten das spätere Opfer nicht vor den Rechtsextremisten.

Auch die beiden Neonazis ließen die Ermittler gewähren, eine notwendige Gefährderansprache, wie sie in solchen Fällen üblich ist, blieb aus. Das Unheil nahm seinen Lauf. Parallell zum Prozess läuft im Berliner Abgeordnetenhaus derzeit ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zu den Neuköllner Vorgängen. Opfer weiterer Anschläge berichteten dort über weitere polizeiliche Pannen.

So beklagte jüngst die Sozialarbeiterin Christiane Schott, auf deren Haus junge Rechtsextremisten zehn Anschläge mit zerbrochenen Scheiben und einem gesprengten Briefkasten verübt hatten, dass die Ermittler im gegenüberliegenden Nachbarhaus zwar eine Überwachungskamera angebrachten hätten, diese aber genau zum Zeitpunkt eines Angriffs nicht lief, weil die Batterien leer waren. Die Familie Schott hat ihr Haus inzwischen verkauft und ist aus Neukölln weggezogen.

Ermittler im Zwielicht

Mehrmals wurde in den vergangenen Jahren der Vorwurf erhoben, Polizisten hätten den Rechtsextremisten ihr Treiben womöglich durch die Weitergabe von brisanten Informationen erleichtert. Sechs Wochen nach dem Brandanschlag auf das Auto des Linken-Politikers Ferat Kocak wollen Verfassungsschützer bei einer Observation beobachtet haben, wie sich ein Kollege vom Berliner LKA mit dem inzwischen angeklagten Neonazi Sebastian T. und drei weiteren polizeibekannten Neonazis in einer Neuköllner Fußballkneipe traf. Der Beamte W. ist den Verfassungsschützern bekannt, da er für das LKA in einer Abteilung tätig ist, die ebenfalls für Observationsmaßnahmen zuständig ist.

Nachdem die Verfassungsschützer ihre Beobachtungen mitgeteilt hatten, wurde gegen diesen Beamten wurde zunächst polizeiintern ermittelt, später prüfte auch die Staatsanwaltschaft den Fall. Das Verfahren gegen ihn wurde in der Folge jedoch eingestellt. Inzwischen sprechen die Sicherheitsbehörden von einem Irrtum. Die Verfassungsschützer hätten T. mit einer anderen Person, einem Freund des Beamten W., verwechselt.

Unstrittig ist aber: Sowohl T. als auch drei weitere Neonazis waren zum besagten Zeitpunkt in der Kneipe, ebenso der LKA-Beamte W. Abgeordnete im Untersuchungsausschuss hat die Darstellung der Behörden bis heute nicht überzeugt, sie fordern weiterhin Aufklärung in diesem Fall.

Großer Aufwand, kaum verwertbare Ergebnisse?

Nach mehr als vier Monaten Prozessdauer könnte an diesem Donnerstag also mit P. der erste der beiden Neonazis freigesprochen werden – aus Mangel an Beweisen. Wie es mit seinem Kumpel Sebastian T. weiter geht, ist völlig offen. Werden auch hier die von der Staatsanwaltschaft zusammen getragenen Indizien nicht ausreichen?

Im Fall der beiden angeklagten Auto-Brandstiftungen könnte die Beweisführung gegen T. ebenfalls schwierig werden. Doch gegen ihn wird in den kommenden Wochen auch noch wegen Morddrohungen verhandelt. Auf Häuserwänden soll er politischen Gegnern mit dem Tode gedroht haben - mit dem vielsagenden Schriftzug "9mm für…". Zudem wirft die Generalstaatsanwaltschaft T. Sozialbetrug vor. Unter anderem soll er sich Corona-Soforthilfemaßnahmen in betrügerischer Absicht erschlichen haben.

Sendung: rbb24 Inforadio, 15.12.2022, 9 Uhr

Beitrag von Jo Goll

13 Kommentare

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  1. 13.

    Die Terrorserie umfasst mitnichten nur die zwei Brandanschläge auf die es bestimmte Kreise gerne verharmlosen wollen.

    https://www.tagesschau.de/inland/neukoelln-anschlaege-rechtsextremismus-101.html

  2. 12.

    "Wenn Polizei und Ermittlungsbehörden es nicht auf die Reihe bekommen, beweiskräftige Dinge vorzulegen, daraus folgt eben ein Freispruch.
    Wo kämen wir hin, wenn man dann Täter nur wegen ihrer Gesinnung zu verurteilen? "

    Es nicht auf die Reihe bekommen? Sie meinen wohl eher eindeutig zusammenarbeiten.

  3. 11.

    Dann bitte ich ausdrücklich um Entschuldigung! Derartiges mir gegenüber hätte Ihnen einfach nicht zu Gesicht gestanden. Vielen Dank für die Klarstellung.
    Wenn Fehler gemacht wurden, dann gehören die selbstverständlich aufgeklärt und für die Zukunft abgestellt. Aber ohne Kenntnis der Beweggründe einfach nur mal wieder auf unsere Polizisten einzudreschen und ihnen Nähe und Unterstützung von bzw. zu Rechtsextremisten zu unterstellen, läuft an der täglichen Realität nun mal vorbei und bedient lediglich linksradikale Narrative. Und da kann ich auch den RBB nicht aus seiner Verantwortung entlassen. Zu einer neutralen und verantwortungsvollen Berichterstattung gehört es auch, die Beweggründe zu recherchieren und zu veröffentlichen. Ansonsten arten die Diskussionen und Vorwürfe gegenüber der Polizei jedes Mal aus. Die Berliner Polizisten haben es ohnehin schwer genug.

  4. 10.

    Enschuldigung, da habe ich aus versehen meine Antwort an Sie gerichtet, diese Zeilen waren ene Antwort auf Ausführungen von Martina!
    Nochmal Sorry, ich bin "Dagmar, Berlin"

  5. 9.

    Wieso, lehnen Sie diesen Staat etwa ab? Ich jedenfalls nicht und ich schrieb auch nie etwas dergleichen. Wäre außerdem nett, wenn Sie künftig nicht unter fremdem Namen schreiben würden und damit falsche Eindrücke generieren. Das war nicht der Stil von "Dagmar, Berlin".

  6. 8.

    Wer diesen Staat ablehnt, der sucht bei ihn sogleich, wenn die Gelegenheit passt "ein Haar in der Suppe, um die ganze Suppe als ungenießbar zu verurteilen".

  7. 7.

    Ja klar, "Martina" ist wieder schlauer als alle anderen und weiß es besser als Staatsanwaltschaft oder Untersuchungsausschuss. Das Narrativ muss halt stimmen.

  8. 6.

    Mal ehrlich: was soll ein Urteil, fußend auf spärlich Indizien?
    Wenn Polizei und Ermittlungsbehörden es nicht auf die Reihe bekommen, beweiskräftige Dinge vorzulegen, daraus folgt eben ein Freispruch.
    Wo kämen wir hin, wenn man dann Täter nur wegen ihrer Gesinnung zu verurteilen?
    Vor allen Dingen, wo soll das dann enden?
    Unsere deutsche Geschichte ist voll davon.

  9. 5.

    Mal ehrlich: was soll ein Urteil, fußend auf spärlich Indizien?
    Wenn Polizei und Ermittlungsbehörden es nicht auf die Reihe bekommen, beweiskräftige Dinge vorzulegen, daraus folgt eben ein Freispruch.
    Wo kämen wir hin, wenn man dann Täter nur wegen ihrer Gesinnung zu verurteilen?
    Vor allen Dingen, wo soll das dann enden?
    Unsere deutsche Geschichte ist voll davon.

  10. 4.

    "Die Beamten" in diesem Komplex haben nach der grottenschlechten Arbeit, den Pannen, den Verschleppungen und vor allem den merkwürdigen Verstrickungen "einzelner Beamter" mit den Angeklagten,
    keinerlei Grund darüber zu wimmern es würde auf sie "eingedroschen"

    Weshalb also wimmern Sie hier im angeblichen Interesse von Beamten?

    Alternativ können Sie sich auch an die Beamten wenden. Die waren in diesem Prozess nicht besonders Auskunftsfreudig was die Qualität, der Sinn und die Umsetzung ihrer Arbeit angeht.

  11. 3.

    Leider wird auch hier wieder suggeriert, das ausgebliebene Warnen des potentiellen Opfers wäre mit einem Gewährenlassen der Täter gleichzusetzen. Das ist unsachlich. Es kann durchaus sehr gute Gründe haben, weder Opfer zu warnen, noch eine Gefährderansprache vorzunehmen, um Täter nicht vorzuwarnen und Ermittlungen zu gefährden. In anderen Fällen mag das anders aussehen. Genau das wäre aufzuklären, bevor man derartige Vorwürfe erhebt. Was waren die genauen Beweggründe, was hat man sich davon versprochen? Einfach nur auf die Beamten einzudreschen, weil man im Nachhinein alles besser weiß oder zu wissen glaubt, bringt gar nichts und gleich gar keine Verbesserung für die Zukunft.

  12. 2.

    Im Zweifel für den Angeklagten, wie es in einem Rechtsstaat üblich ist. Und dazu wird es kommen.

  13. 1.

    Schön ausgemalt, der RBB Beitrag. Ich habe im Tagesspiegel gelesen, dass die Beweislage bei der "Anschlagserie", es handelt sich um zwei Brandanschläge auf PkW's vor etlichen Jahren (es dürften inzwischen in Berlin etliche Hundert gewesen sein) deswegen für eine Veruirteilung nicht ausreicht. Mal sehen, wie das Gericht entscheiden wird.,

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