Mehrere Rettungseinsätze - Jesiden protestieren mit Hungerstreik gegen Abschiebungen in den Irak
Mit drastischen Mitteln wird im Berliner Regierungsviertel gegen die Abschiebung von Jesiden in den Irak demonstriert. Seit einer Woche befinden sich mehrere Menschen im Hungerstreik. Am Montag wurden einige ins Krankenhaus gebracht. Von Oliver Noffke
Seit einer Woche befinden sich mehrere Menschen vor dem Reichstagsgebäude im Hungerstreik. Sie protestieren gegen die drohende Abschiebung von Jesiden in den Irak. "15 Leuten geht es schlecht. Davon sind einige ins Krankenhaus gekommen, andere sind noch hier", sagt Marwan Shekho rbb|24 Montagnachmittag. Der 45-Jährige ist seit Beginn des Protests am 9. Oktober dabei, wie er sagt.
Mit der Aktion soll auf die Situation vieler Jesidinnen und Jesiden in Deutschland aufmerksam gemacht werden. Shekho sagt, er müsse selbst nicht fürchten, abgeschoben zu werden. Er kenne aber viele, die nun bangten. Deswegen habe er die vergangenen Nächte in einem Zelt auf dem Platz der Republik verbracht. "Ich bin herzkrank, aber es geht nicht anders."
Sieben Personen, die sich an dem Protest beteiligt hatten, wurden am Montagmorgen aufgrund ihres geschwächten Zustands in Krankenhäuser gebracht. Am frühen Nachmittag wurden noch einmal zwei Demonstranten von Notfallsanitäter:innen abtransportiert, wie die Berliner Feuerwehr auf Anfrage mitteilte. Acht weitere seien zur ärztlichen Untersuchung gebracht worden.
Von den Abschiebungen seien insbesondere Menschen betroffen, die nach Angriffen des sogenannten Islamischen Staats (IS) aus ihrer Heimat geflohen waren, sagt Bekir Bilge. Er steht einem Verein aus Niedersachsen vor, der sich an dem Protest beteiligt. Weder der Teil des Iraks, der unter der Kontrolle der Zentralregierung in Bagdad steht, noch der autonom regierte kurdische Teil im Norden des Landes seien derzeit sicher für Jesiden, sagt er. "Unsere erste Forderung ist, dass die Abschiebung von Jesiden sofort gestoppt wird."
"Die wollen nicht essen, bis wir eine Antwort vom Bundestag bekommen"
Eine junge Jesidin aus Berlin erklärt die Emotionen und Wut vieler Anwesender mit Unverständnis. Viele in der Community könnten nicht verstehen, weshalb der Bundestag im Januar die Verbrechen des IS an den Jesiden als Völkermord anerkannt hat. Und dennoch trotzdem im Mai begonnen wurde, Menschen abzuschieben, die vor dem IS geflohen waren.
"Zwei Bekannte von mir demonstrieren hier", sagt sie. "Ihre Asylanträge wurden abgelehnt. Sie haben ihre Papiere mitgebracht, die wollen sie im Parlament abgeben." Sie war gekommen, um eine kurze Rede gen Bundestag zu richten. "Ich würde gerne wissen, wer festgelegt hat, dass der Irak für Jesiden sicher ist."
Mit Reden und Rufen werde seit Tagen versucht, die Aufmerksamkeit der Parlamentarier einzufordern, so Bekir Bilge. Nur vier von ihnen seien bislang vorbeigekommen. Einer von den Grünen, einer von der AfD, am Montagnachmittag noch zwei von der SPD, sagt er. Wenn sich nichts ändere, würden die Streikenden bis zum Äußersten gehen, warnt Bilge. "Die wollen nicht essen, bis wir eine Antwort vom Bundestag bekommen."
Deutschland beherbergt größte jesidische Diaspora
Waren kurz nach Beginn des Hungerstreiks die Nächte noch recht lau, haben sie sich zuletzt deutlich abgekühlt. Herrschten vergangenen Mittwoch noch Temperaturen um die 20 Grad nachts, waren es in der Nacht auf Montag nur noch um die fünf Grad.
Etwa 150 Personen waren am Montagnachmittag anwesend, bei Nieselregen und eisigem Wind. Einige waren extra für den Protest aus anderen Bundesländern angereist und hatten sich am Morgen in Leipzig, Gelsenkirchen oder anderswo auf den Weg ins Berliner Regierungsviertel begeben. Viele wollen wiederkommen.
Jesiden sind vor allem im Nordirak, im Südosten der Türkei und dem Norden Syriens beheimatet. Sie sprechen eine eigene Sprache und praktizieren eine eigene Religion. In Armenien werden Jesiden als eigene Ethnie anerkannt. Mit schätzungsweise 200.000 Jesiden gilt Deutschland als das Land mit der größten jesidischen Diaspora.
Getötet, verschleppt, verschollen
Im August 2014 hatte die Terrormiliz IS einen Auslöschungsfeldzug gegen Jesiden begonnen, die von der islamistischen Organisation als "Ungläubige" verunglimpft werden. Innerhalb von zwei Monaten wurden damals rund 5.000 Zivilisten getötet, bis zu 7.000 weitere wurden verschleppt und teilweise als Sklaven verkauft, so die Vereinten Nationen. Mehr als 2.700 Menschen gelten nach wie vor als verschollen. Zehntausende wurden vertrieben.
Angemeldet ist die Demonstration vor dem Reichstagsgebäude bis zum 24. Dezember. "Bis dahin werden wir durchziehen", sagt Bekir Bilge. "Egal ob Regen, egal ob Schnee. Egal was."
Sendung: rbb24 Abendschau, 16.10.2023, 19:30 Uhr