Strafrechtliche Verfolgung von NS-Tätern - Hochbetagte vor Gericht
Am 27. Januar 1945 wird das KZ Auschwitz befreit. Dort und in anderen Lagern wurden Millionen Menschen ermordet. Ermittelt wird gegen die Täter noch immer. Einem mutmaßlichen Wachmann im KZ Sachsenhausen droht jetzt ein Prozess - mit 99 Jahren. Von Lisa Steger
Es könnte der letzte Prozess gegen einen KZ-Wachmann werden. Und noch ist ungewiss, ob er überhaupt stattfinden kann: Der heute 99-jährige Gregor F. soll im Juli 1943 als 18-Jähriger seinen Dienst als SS-Wachmann im KZ Sachsenhausen angetreten haben und bis zum Februar 1945 dortgeblieben sein.
Anderthalb Jahre nach Kriegsende wurde er in Fürstenwalde festgenommen. 1947 verurteilte ihn ein sowjetisches Militärgericht. In Bautzen saß Gregor F. wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Spionage" anschließend zehn Jahre Haft ab. Kurz vor dem Mauerbau soll er nach Hessen gezogen sein, weshalb jetzt das Landgericht Hanau für ihn und die mutmaßlichen Taten zuständig ist, die Gregor F. in Sachsenhausen begangen haben soll: Beihilfe zu mehr als 3.300 Morden, so der Vorwurf der zuständigen Staatsanwaltschaft Gießen.
Normalerweise kann ein Mensch nicht zweimal wegen derselben Tat belangt werden. Hier ist es anders, weil die Bundesrepublik mit der damaligen Sowjetunion kein Abkommen geschlossen hatte, wonach sie deren Urteile anerkennt.
Hohes Alter wird zur Hürde im Verfahren
Die Anklage liegt dem Landgericht Hanau vor, doch das hat noch kein Verfahren eröffnet, erklärt Gerichtssprecherin Tanja Stiller auf rbb-Anfrage. Ein Gutachter hatte den 99-Jährigen im letzten Jahr als eingeschränkt verhandlungsfähig eingestuft, für zwei Stunden pro Verhandlungstag, doch Ende Dezember musste der Mann ins Krankenhaus. Dort wurde er erneut begutachtet. Das schriftliche Gutachten ist aber noch nicht im Gericht angekommen. Sollte der 99-Jährige weiterhin eingeschränkt verhandlungsfähig sein und das Gericht das Verfahren eröffnen, so könnte es am 4. März beginnen, erklärt Stiller.
Das Verfahren gegen Gregor F. ist nicht das letzte, das die deutschen Justizbehörden rund 79 Jahre nach Kriegsende beschäftigt. Es gibt noch drei weitere Fälle: Sie betreffen zwei SS-Männer und eine Frau, die im KZ tätig gewesen sein soll. Nur einer dieser Beschuldigten ist bisher angeklagt. Ob und wann Prozesse stattfinden können, ist offen. Denn das Alter der Beschuldigten macht es schwierig.
Staatsanwaltschaft Berlin klagt erstmals wegen Verbrechen in Kriegsgefangenenlager an
Von Hindernissen begleitet ist insofern auch das Verfahren gegen einen inzwischen 100-Jährigen, der als junger Mann von Ende November 1942 bis zum 20. März 1943 im Lager Wladimir-Wolynsk auf dem Gebiet der heutigen Westukraine eingesetzt gewesen sein soll. Dort wurden sowjetische Soldaten unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten.
Die Staatsanwaltschaft Berlin hatte ihn 2022 wegen Beihilfe zu mehr als 800 Morden angeklagt - es war das erste Mal, dass ein Wachmann in einem Kriegsgefangenenlager zur Verantwortung gezogen werden sollte.
Das Landgericht Berlin lehnte ein Verfahren ab: Der Angeklagte sei verhandlungsunfähig, hieß es. Dies allerdings muss das Landgericht noch einmal prüfen: So hat es kürzlich das Kammergericht Berlin entschieden hat, wie die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg auf rbb-Anfrage mitteilt. Möglich also, dass der 100-Jährige doch noch vor Gericht kommt. 81 Jahre nach den vorgeworfenen Taten.
BGH-Urteil ermöglichte späte Verfolgung
Mord verjährt nicht. Die Beihilfe dazu unter bestimmten Umständen auch nicht. Die Staatsanwaltschaften können es sich daher nicht aussuchen, ob sie ermitteln wollen oder nicht – sie müssen es tun.
Eine Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofes aus dem Jahr 2016 machte es möglich, auch SS-Wachleute und andere Helfershelfer anzuklagen. Es ging um den Wachmann Oskar Gröning, der in Auschwitz unter anderem das Geld der deportierten Juden verwaltet und Wachdienst an der "Rampe" geleistet hatte. Das Landgericht Lüneburg verurteilte ihn dafür 2015 zu vier Jahren Haft.
Ein Jahr später bestätigte der Bundesgerichtshof: Bereits die "allgemeine Dienstausübung im Konzentrationslager Auschwitz" könne Beihilfe zum Mord sein. Die Wachleute seien "Teil einer Drohkulisse gewesen". Nur, weil sie die Fluchten verhinderten, konnten die Nazis ihre Morde begehen. Und so wird weiter ermittelt.
Weitere Ermittlungen laufen noch - unter anderem in Brandenburg
Ermittlungen, aber noch keine Anklagen gibt es in zwei weiteren Fällen: Die Generalstaatsanwaltschaft Celle befasst sich mit einem 101-Jährigen, der SS-Wachmann im Kriegsgefangenlager Stalag III C in Alt Drewitz im heutigen Polen gewesen sein soll.
Und die Staatsanwaltschaft Neuruppin hat eine ebenfalls 101 Jahre alte Frau im Visier: Sie soll vom Dezember 1944 bis zum Frühjahr 1945 im KZ-Ravensbrück gewesen sein, "im SS-Gefolge. Sie hatte Wachaufgaben", so der Neuruppiner Staatsanwalt Cyrill Klement auf rbb-Anfrage. Ihre Verhandlungsfähigkeit werde fortlaufend geprüft.
Die letzte Etappe
Bei mehreren dieser Prozesse vertrat der Anwalt Thomas Walther Überlebende oder Hinterbliebenen. Inzwischen ist er 80 Jahre alt. Falls sich der mutmaßliche SS-Wachmann Gregor F. tatsächlich im Landgericht Hanau verantworten muss, wird Walther wieder dabei sein. Er wird, wie auch schon im Prozess gegen den SS-Wachmann Josef S., überlebende Sachsenhausen-Gefangene oder Hinterbliebene von Mordopfern als Nebenkläger vertreten.
Das Landgericht Neuruppin hatte Josef S. im Juni 2022 wegen Beihilfe zu mehr als 3.500 Morden zu fünf Jahren Haft verurteilt. Doch ins Gefängnis musste der Brandenburger nicht. Er starb, bevor sein Urteil rechtskräftig wurde. Seit 2015 sind vier weitere KZ-Wachmänner und eine KZ-Sekretärin verurteilt worden, bisher musste niemand von ihnen in Haft.
Ihm sei bewusst, dass viele nicht verstünden, warum so alte Angeklagte noch vor Gericht kommen, doch er sehe es anders, sagt Walther. "Lebensalter als Freispruch" - das dürfe es nicht geben. "Unser deutsches Selbstverständnis wurde nach Kriegsende durch tiefes Schweigen und gezieltes Vergessen geprägt". Er ist überzeugt: "Sollte vor dem Landgericht Hanau noch ein letzter Sachsenhausen-Prozess 2024 beginnen, wird Schweigen und Vergessen nicht geschehen."
Wenn Ermittlungen eingestellt werden, soll Erinnerung bleiben
So sieht es auch Thomas Will, der als Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg mit sieben weiteren Ermittlern Material, etwa aus dem Bundesarchiv, auswertet, und die NS-Prozesse ermöglicht. "Das geht mir und auch vielen Opfern und Angehörigen so, dass schon das bloße Strafverfahren eine rechtsstaatliche Bedeutung hat", sagt Will dem rbb. Entscheidend sei nämlich, dass das Gericht überhaupt eine Schuld feststelle.
Insofern seien die Urteile der letzten Jahre auch überhaupt nicht frustrierend gewesen, sagt Will. "Wir haben ganz klar eine gefestigte Rechtsprechung bekommen." Und die besage, "dass diejenigen, die ihren Dienst in den entsprechenden Lagern versehen haben, sich auch der Beihilfe schuldig gemacht haben."
Die Zentralstelle wird irgendwann schließen - ganz einfach, weil alle Beschuldigten tot oder verhandlungsunfähig sind, so Will. Vergessen sollen die Taten dann nicht sein. "Für die Zeit danach wird an einer Bildungs-, Erinnerungs- und Mahnstätte gearbeitet."