Spanische Grippe 1918 in Berlin - Das große Sterben

Sa 02.05.20 | 06:14 Uhr | Von Sebastian Schneider, rbb|24
Archivbild: Das historische Foto zeigt die Personenbeförderung von Menschen mit Droschken und Pferde-F​uhrwerken in Berlin während des Verkehrsstreiks im Rahmen der Berliner Märzkämpfe 1919. (Quelle: dpa/S. Sauer)
Bild: dpa/S. Sauer

Vor gut 100 Jahren wütet die Spanische Grippe in der Welt, auch in Berlin und Preußen kostet sie Zehntausende das Leben. An dem Virus sterben wohl mehr, als in beiden Weltkriegen zusammen – auch, weil die Behörden sie komplett unterschätzen. Von Sebastian Schneider

In den Schützengräben, auf den Schlachtfeldern liegen Leichen. Die Männer wurden zerfetzt von Granaten, durchbohrt von Kugeln und Klingen, erstickt durch Gas. Doch viel mehr Soldaten trifft der Tod in überfüllten Lazaretten, hustend, schweißnass, glühend vor Fieber. Manche bluten aus Mund und Nase. Der neue, unsichtbare Feind gesellt sich mitten in den Horror des letzten Kriegsjahres. Er wird binnen weniger Monate fünfmal mehr Opfer fordern, als das Schlachten der Armeen selbst.

Doch er wächst schnell über den Krieg hinaus, findet den Weg auf Archipele im Pazifik, in chinesische Dörfer, die Straßen und Gassen von Mumbai und Dakar, von New York und Groß-Berlin. Viele Jahrzehnte später werden ihn Forscher in einer gut erhaltenen Leiche in einem Massengrab im gefrorenen Boden Alaskas finden. Aber damals, vor gut 100 Jahren, weiß man noch nicht, was ein Virus ist. Der Tod bekommt den Namen Spanische Grippe.

Weltweit kostet sie zwischen 25 und 50 Millionen Menschen das Leben, möglicherweise auch deutlich mehr. Gerade in afrikanischen und asiatischen Ländern, wo sie am schlimmsten wütete, wurden bei weitem nicht alle Grippetoten registriert. Die US-amerikanische Journalistin Laura Spinney schätzt in ihrem Sachbuch "1918. Die Welt im Fieber", dass es bis zu 100 Millionen Todesopfer waren – mehr, als in beiden Weltkriegen zusammen.

Eine Frau auf ihrer Farm im Haskell County im US-Bundesstaat Kansas im Jahre 1941. Der Landstrich gilt als erster Ausbruchsort der Spanischen Grippe, die 1918 bis 1920 weltweit bis zu 100 Millionen Menschen das Leben kostete (Quelle: National Archives and Records Administration / Irving Rusinow).
Eine Farmerin im Haskell County. Hier soll das mutierte Vogelgrippe-Virus auf den Menschen übergesprungen sein.Bild: National Archives and Records Administration / Irving Rusinow

Der Beginn

Haskell County im US-Bundestaat Kansas ist ein von Sandstürmen geplagter und dünn besiedelter Landstrich, in dem vor allem Farmer leben. Hier bricht die Pandemie im Januar und Februar 1918 aus, das nehmen die meisten Medizinhistoriker an. Das Vogelgrippe-Virus springt wohl zunächst von einem Wildvogel auf ein Nutztier über. A/H1N1 mutiert und infiziert zum ersten Mal einen Menschen. Einen, der oft eng mit Geflügel und Schweinen in Kontakt kommt.

Der Arzt Loring Miner wird Anfang des Jahres zu auffällig vielen Hausbesuchen gerufen. Bald ist er nur noch von Farm zu Farm unterwegs. Die Patienten zeigen urplötzlich heftige Grippesymptome. Was Miner wundert: Die meisten sind jung und waren vorher völlig gesund. Bei den bekannten, saisonalen Grippewellen dagegen trifft es vor allem Kleinkinder und Alte. Miner nimmt Blutproben, die er in seinem kleinen Labor untersucht. Er meldet seine Befürchtung, es mit einem neuen Erreger zu tun zu haben, an den Öffentlichen Gesundheitsdienst. Aber er bekommt nie eine Antwort.

Am 4. März 1918 wird der erste Fall weltweit in einer nahegelegenen Militärbasis in Haskell registriert. Der Gefreite Albert Gitchell meldet sich mit 40 Grad Fieber, extrem starken Kopf- und Gliederschmerzen krank. Gitchell ist Lagerkoch und teilt Essen aus. Das Camp ist mit 56.000 Rekruten eines der größten des Landes. Hier werden die jungen Männer auf ihren Einsatz auf den europäischen Schlachtfeldern vorbereitet. Innerhalb der ersten drei Wochen erkranken Tausende von ihnen. Bald melden andere Camps in den USA ähnliche Fälle.

Die Verbreitung

Der Krieg hat fast die gesamte Welt erfasst. Nie zuvor wurden so viele Menschen in so kurzer Zeit um die Erde bewegt. Fregatten der US-Streitkräfte landen im März im französischen Brest, im April bricht die Grippe in den Schützengräben aus. Die katastrophalen hygienischen Bedingungen im Morast der Front machen es dem Virus leicht: Dreck, Nässe, Ungeziefer, Ratten setzen den Soldaten zu. Die Militärärzte werden komplett überrascht. Der Mensch hat noch keinerlei Immunabwehr gegen dieses mutierte Virus. Tausende sterben jede Woche an der Grippe - etwa jeder zehnte Infizierte überlebt nicht.

Die deutschen Truppen haben an der Westfront bei ihrer Frühjahrsoffensive Tausende britische, französische und US-amerikanische Soldaten gefangengenommen. So kommt das Virus auch zu ihnen. Bald sind 900.000 deutsche Soldaten außer Gefecht gesetzt. General Erich Ludendorff schiebt das Scheitern der letzten deutschen Offensive später auf die Spanische Grippe - sie kommt ihm als Ausrede sehr gelegen.

Die falsche Fährte

Es wird später Frühling, bis man zum ersten Mal von der Pandemie lesen kann: Am 27. Mai 1918 meldet die spanische Nachrichtenagentur Fabra, König Alfons XIII. sei von einer rätselhaften Erkrankung befallen. "Eine merkwürdige Krankheit mit epidemischem Charakter ist in Madrid aufgetreten. Die Epidemie ist von einer milden Form, Todesfälle wurden bisher nicht gemeldet", heißt es in der Nachricht. Nicht einmal drei Wochen später liegen die ersten Kranken in Berlin darnieder.

"Man musste davon ausgehen, dass das Virus aus Spanien gekommen war. Aber das passte gar nicht ins Konzept. Damals hatten sich alle darauf eingestellt, dass alles Böse immer aus dem Osten kommt. Und jetzt kam es scheinbar aus dem Westen – darauf konnte man sich überhaupt keinen Reim machen", sagt der Historiker und Mediziner Wilfried Witte über die Eindrücke im damaligen Deutschen Reich. Der Oberarzt am Evangelischen Klinikum Bethel in Bielefeld hat das Buch "Tollkirschen und Quarantäne. Die Geschichte der Spanischen Grippe" geschrieben.

Spanien nimmt damals nicht am Krieg teil, das Land ist neutral. Deshalb gibt es kaum Zensur, die Zeitungen thematisieren die Krankheit vergleichsweise offen und ausführlich. In Ländern der Kriegsgegner wie Großbritannien und dem Deutschen Reich werden Meldungen unterdrückt – aus Angst, die Bevölkerung weiter zu demoralisieren. Nur deshalb ist der Name "spanische Grippe" in die Geschichte eingegangen.

Aber es hängt wie immer vom Standpunkt des Betrachters ab.

Die Schuld der Anderen

Die Briten nennen die Pandemie damals "flandrisches Fieber", weil sich die Soldaten in den belgischen Schützengräben angesteckt haben. Die Deutschen bezeichnen sie zunächst als "Blitzkatarrh", weil er so schnell krank macht und tötet. Die Spanier reden von der "portugiesischen Krankheit", die Senegalesen von der "brasilianischen", die Polen von der "Bolschewikenkrankheit".

Die New York Times schlägt vor, es die "Deutsche Grippe" zu nennen, schließlich befalle sie ja nur Deutsche. "Wenn man sich als Historiker mit Seuchen beschäftigt, wundert man sich über solche Schuldzuweisungen nicht. Das zieht sich durch die Seuchengeschichte – wie auch jetzt während der Corona-Pandemie", sagt Wilfried Witte.

Dabei verstört die Menschen im Jahr 1918, dass sich niemand sicher fühlen darf: "Pan demos" bedeutet "alles Volk". In Wien stirbt der Maler Egon Schiele, in München der Soziologe Max Weber. In New York City Frederick Trump, der Großvater eines späteren US-Präsidenten. Dieser wird ein Jahrhundert danach versuchen, China die Schuld an einem anderen Virus zu geben.

"Eine Weltseuche, gegen die die Pest in Florenz oder ähnliche Chronikgeschichten ein Kinderspiel sind", notiert der Schriftsteller Stefan Zweig damals in seinem Tagebuch. Der kranke Franz Kafka hat Glück und überlebt die Spanische Grippe. Sechs Jahre später erliegt er der Tuberkulose.

Demonstrantinnen für das Frauen-Wahlrecht in Berlin (Quelle: akg/Gebr. Haeckel)
Die erste Welle trifft Berlin Mitte Juni 1918. Sie verläuft noch vergleichsweise glimpflich - auch deshalb unterschätzen die Behörden die Gefahr.Bild: akg/Gebr. Haeckel

Der Tod kommt nach Berlin

Als das Virus im Juni 1918 das Deutsche Reich erfasst, trifft es auf eine geschwächte, ernüchterte Bevölkerung. An einen Sieg glaubt im fünften Jahr des Krieges kaum noch jemand.

Soldaten bringen die Seuche beim Erholungsurlaub in die Heimat mit, andere schleppen sie später bei ihrer Rückkehr nach Kriegsende ein. Innerhalb weniger Monate erkranken Hunderttausende im Kaiserreich an der Spanischen Grippe. Insgesamt sterben bis Januar 1919, innerhalb von nicht einmal sechs Monaten, geschätzt 400.000 Menschen im Land daran. Allein in Berlin sind es mehr als 50.000 Tote.

In den Zeitungen liest man davon kaum etwas. "Es ist sehr auffällig zu beobachten, dass versucht wird, die Spanische Grippe im Deutschen Reich nach Möglichkeit überhaupt nicht zu thematisieren. Man versuchte ganz offenkundig, das bewusst kleinzuhalten", sagt Wilfried Witte.

Kranke werden in den überfüllten Krankenhäusern abgewiesen. "Die Seuche raste durch die Stadt", schreibt später der Autor Alfred Döblin. Dabei verläuft die erste Welle noch relativ mild, die allermeisten Erkrankten überleben. Sie bemerken kaum einen Unterschied zu normalen Grippesymptomen.

Trügerische Erklärungen

Diese zweite Junihälfte, in der die Grippe die deutsche Hauptstadt erwischt, ist relativ kühl und regnerisch, das Wetter nehmen die Zeitungen gerne als Erklärung für die rasante Ausbreitung des Erregers. Einen möglichen Zusammenhang zur desaströsen Versorgungslage der Bevölkerung beschreiben sie nicht: Am 15. Juni werden die Brotrationen für die Bürger weiter gekürzt. Die Lebensmittelvorräte sind auf einem neuen Tiefpunkt, die neue Ernte noch nicht eingebracht.

Die These aber, dass es fast nur an Hunger und Entbehrung lag, dass die Grippe derart verheerend wirkte, lässt sich nicht halten. Denn ländliche Gebiete des Deutschen Reichs, in denen die Menschen wesentlich mehr zu essen hatten, wurden von der zweiten Welle mindestens ebenso hart erfasst, wie notleidende Großstädte. Die deutlich besser versorgte, im Krieg neutrale Schweiz erwischt es noch schwerer.

"Natürlich kann man verstehen, wenn die Leute gedacht haben: Wir haben einen nie gekannten, total verstörenden Weltkrieg erlebt. Jetzt hungern wir und nun kommt noch die Grippe obendrauf. Davon ausgehend hat sich das Bild etabliert, dass man die Spanische Grippe von etwas anderem ableitet. Man sieht sie als eine Folgeerscheinung und macht dann das andere Phänomen zum eigentlichen Thema, zum Beispiel Hunger", sagt Wilfried Witte. Auch das ist ein Grund dafür, dass die Spanische Grippe selbst so lange in Vergessenheit geriet.

Ausgabe von Lebensmittelkarten an deutsche Soldaten, Reichstagsgebäude, November 1918 (Quelle: Bundesarchiv).
Soldaten stehen für Lebensmittelkarten im Reichstagsgebäude an. Die Menschen machen es dem Erreger nicht schwer: Wer ihn in sich trägt, aber noch keine Symptome spürt, ist besonders ansteckend.Bild: Bundesarchiv

Die Todesanzeigen verraten mehr, als die Zeitungsberichte

Die Krankheit ist nicht meldepflichtig, nur ein Bruchteil der Betroffenen geht zum Arzt. Am ansteckendsten sind Infizierte dann, wenn sie noch keine Symptome verspüren. Die Behörden haben kein Interesse daran, dass das tatsächliche Ausmaß der Pandemie bekannt wird.

Und so lesen sich auch die Meldungen. "Auch unter der Schutzmannschaft und unter den Arbeitern der Industriebetriebe wütet die Krankheit, ohne dass sie jedoch nach Art ihres Auftretens Grund zu besonderer Beunruhigung gibt", berichtet die Vossische Zeitung am 1. Juli 1918. Das Berliner Tageblatt zitiert den Vorsteher des städtischen Medizinalamtes mit den Worten, er halte die Gefahr für die Zivilbevölkerung für gering.

Die Zahl der Neuerkrankungen geht bald darauf zurück. Die Regierungen fühlen sich bestätigt, die Nachrichten zensiert zu haben. Es ist ja nichts Schlimmeres passiert. Viel aufschlussreicher als die dürftigen Zeitungsmeldungen, sind die Todesanzeigen. "Da steht dann nur manchmal: Gestorben an Grippe. Häufiger aber: Kurze, rasche Krankheit. Wenn das in diesem damaligen Kontext da steht, können Sie davon ausgehen: Es war die Spanische Grippe", sagt Witte.

Die zweite Welle tötet schneller

Doch Ende August kehrt das Virus zurück – mutiert und jetzt viel aggressiver. Kranke bekommen schon nach kurzer Zeit kaum noch Luft, ihre Lungen sind voll mit ausgetretenem Blut und wässrigem Schleim. Auf den Gesichtern breiten sich mahagonifarbene Flecken aus, dann verfärben sich Hände, Füße und Oberkörper dunkelblau bis schwarz - eine Folge von Sauerstoffmangel. Die meisten sterben kurz darauf an einer bakteriellen Lungenentzündung.  "Dass es vor allem die Jungen, die eigentlich Gesunden getroffen hat, konnte sich natürlich keiner erklären. Das ist im Übrigen bis heute nicht klar zu beantworten", sagt Wilfried Witte.

2005 gelingt es dem Pathologen Jeffrey Taubenberger und seinem Team, das Influenzavirus vom Typ H1N1 mehr als 85 Jahre nach dessen Weltenbrand komplett zu entschlüsseln. Sie weisen bei Versuchen nach, dass es sich hundertmal schneller im Gewebe vermehrt, als normale Grippeviren und den Körper buchstäblich überflutet.

Eine These: Das Immunsystem der Infizierten reagierte über, um die Erreger zu bekämpfen – und wandte sich dabei schließlich gegen den eigenen Körper. Bei alten und vorgeschwächten Menschen war diese Überreaktion nicht stark genug um zu töten, bei jungen, kräftigen schon. Forscher bezeichnen das als "Zytokinsturm": Einen toxischen Schock.

Heroin und Quecksilber

Die Ärzte sind im Herbst 1918 ratlos, womit sie es zu tun haben – geschweige denn, wie sie die Kranken heilen können. Sie geben Aspirin in gefährlich hohen Dosen, Arsen, Morphium, Heroin oder Quecksilber. Manche versuchen es mit Aderlass. Penicillin und Antibiotika sind noch nicht erfunden. Nach einem Impfstoff forscht die Weltgemeinschaft vergeblich. Erst 1933 wird zum ersten Mal ein Grippevirus im Labor isoliert.

"Vorwärts", das SPD-Parteiorgan, meldet am 11. Oktober: "Die Grippe hat nicht nur an Ausdehnung stark zugenommen, sondern auch die Zahl der schweren und tödlich verlaufenden Fälle ist größer als beim ersten Auftreten der sogenannten 'spanischen Krankheit' im Juni diese Jahres. (…) Als Vorbeugungsmittel wird häufig Mundspülen empfohlen."

Das Versagen der Behörden

Die neue Form der Spanischen Grippe kommt derart überfallartig, dass die Behörden auch bei gutem Willen spät dran wären. Aber nicht mal diesen Willen zeigen sie – auch aus Angst davor, die durch den absehbar verlorenen Krieg aufgebrachte Bevölkerung mit weiteren Einschränkungen zu reizen. Noch schlimmer ist: Sie reagieren planlos.

Der Föderalismus ist im Kaiserreich noch deutlicher ausgeprägt als heute. Die zaudernde Reichsregierung informiert die Bundesstaaten erst zwei Wochen nach einem Expertentreffen über Empfehlungen zur Bekämpfung der Pandemie. Sie überlässt den örtlichen Behörden, welche Einschränkungen sie verhängen wollen. Es gibt keine abgestimmten Maßnahmen. Jeder wurschtelt für sich allein.

"Zuhause zu bleiben war damals undenkbar"

Die Berliner Politiker tun erstmal nichts. Erst am 24. Oktober beschäftigt sich die Stadtverordnetenversammlung zum ersten Mal mit der Spanischen Grippe. Die Abgeordneten können sich nicht auf ein entschlossenes Vorgehen einigen. Die Presse wird kurz vor Kriegsende kritischer, das Kaiserreich löst sich allmählich auf: "Es ist Zeit, dass durchgegriffen wird. Und zwar erstens unverzüglich, zweitens für Groß-Berlin einheitlich", fordert die Tägliche Rundschau im Oktober. Da schätzen die preußischen Behörden schon intern, dass zwei von drei Bürgern erkrankt sind.

Ein generelles Verbot von Gottesdiensten oder Versammlungen verhängen sie nicht, in diesen Tagen vor der Novemberrevolution, als sich jeden Tag Tausende bei Kundgebungen auf Straßen und Plätzen drängen. Auch Restaurants und Gaststätten werden nicht komplett geschlossen. "Es gab schon Empfehlungen: Man soll sich nicht anhusten, man soll Massenansammlungen meiden. Hier und da wurden Vergnügungsstätten geschlossen. Aber das, was wir heute machen, quasi weltweit zuhause bleiben – das war damals undenkbar", sagt Wilfried Witte. 

Nix mit Homeoffice

Den Begriff "Grippeferien" kennen die Deutschen bald, aber sie gelten nicht an allen Schulen. Mütter sollen entlastet werden, außerdem ist die Schule für viele Kinder der einzige Ort, an dem sie regelmäßig zu essen bekommen. Mal machen sie in der einen Region für zwei Wochen zu, dann in einer anderen. In Berlin werden Schulen nur geschlossen, wenn nachweislich mindestens ein Drittel der Schüler erkrankt ist. "Allerdings sind an den höheren Lehranstalten Klassen bereits aufgelöst worden", heißt es in der Vossischen Zeitung vom 17. Oktober 1918.

An der Siemens-Oberrealschule zum Beispiel ist die Zahl der infizierten Schüler an diesem Tag von 67 auf 111 gestiegen, berichtet die Zeitung. Für die ganze Stadt melden die Allgemeinen Ortskrankenkassen am gleichen Tag 2.015 neue Fälle - und dabei sind die vielen nicht-versicherten Erkrankten nicht mitgezählt. 

Nur eine Minderheit kann es sich leisten, nicht zur Arbeit zu gehen. "Homeoffice" gibt es nicht, durch den Krieg fehlen ohnehin schon Hunderttausende Arbeitskräfte. Die Spanische Grippe verschärft diesen Mangel noch. Deshalb müssen viele Fabriken ihre Produktion drosseln. "In den großen Industriebetrieben waren bis zu einem Drittel der Belegschaften ausgeschaltet", schreibt der Historiker Karl Alexander von Müller später. Bei der Berliner Straßenbahn fehlen bald 15 Prozent der Belegschaft, in den Kommunalverwaltungen bis zu 30 Prozent.

Die Gesundheitsbehörde von New York City ruft die Bürger zum Tragen von Schutzmasken auf, mit dem Slogan: "Better be ridiculous than dead" – "Lieber lächerlich als tot". In Berlin trägt kaum jemand solche Masken. Heute ist klar, dass Städte, die früh und rigoros eingegriffen haben, wesentlich besser davongekommen sind.

Philipp Scheidemann steht am Fenster der Reichskanzlei in Berlin und ruft die Republik aus (Quelle: akg-images)
Das Kaiserreich geht unter, Scheidemann ruft die neue Republik aus, auf den Straßen herrscht Chaos: Diese Flut an Ereignissen verdrängt die Gedanken an die Spanische Grippe.Bild: akg

Tage des Donners

Der November 1918 ist in Berlin nichts als komprimierte Gleichzeitigkeit. Die Geschichte scheint den Stoff vieler Jahre in ein paar Wochen pressen zu wollen. Der Kaiser wird am 9. November 1918 zur Abdankung gezwungen, am selben Tag ruft Scheidemann die Republik aus. Der Krieg ist zwei Tage später vorbei, es folgen Straßenschlachten und bürgerkriegsartige Zustände in der Hauptstadt.

Die Spanische Grippe tötet nebenbei und sie tötet still. Ende des Monats flaut sie ab, verkommt schnell wieder zur Randnotiz. Die Seuche wird als unbeherrschbare, nicht zu begreifende Naturgewalt betrachtet. Warum darüber den Kopf zerbrechen? Die Menschen haben andere Sorgen. Über die dritte und in Deutschland letzte bekannte Welle bis März 1919 gibt es kaum noch Aufzeichnungen.

Der Influenza-Erreger ist dabei noch einmal mutiert, aber jetzt weniger gefährlich. Wie fast alle Viren passt auch A/H1N1 sich an, um seinen Wirt nicht zu töten – damit es sich so weit wie möglich verbreiten kann. Wer sich im Verlauf der Pandemie später infiziert, hat deutlich höhere Überlebenschancen. Noch wichtiger aber ist: Viele Menschen sind nach überstandener Erkrankung immun gegen eine erneute Ansteckung.

Epilog

Im März 1920 wird in Preußen der letzte Todesfall gemeldet. In einer Bilanz aus dem gleichen Jahr heißt es über den Freistaat, die Pandemie sei dort "ohne wesentliche Beeinflussung durch systematische Bekämpfungsmaßnahmen verlaufen." Hieraus könne den Behörden ein Vorwurf gemacht werden.

Der Abschlussbericht im Jahr 1923 für das gesamte Deutsche Reich ist 20 Seiten dick. Die Spanische Grippe hat zu diesem Zeitpunkt bis zu fünf Prozent der Erdbevölkerung getötet.

Wenn Ihnen hier der Zeitstrahl zur Spanischen Grippe nicht dargestellt wird, klicken Sie bitte hier. 

Beitrag von Sebastian Schneider, rbb|24

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