Anhörung im Untersuchungsausschuss - Sachverständige zu Neuköllner Anschlägen wirft Ermittlern Versäumnisse vor
Der Untersuchungsausschuss zu der rechten Anschlagserie in Neukölln hat am Freitag eine erste Sachverständige angehört. Bianca Klose von der "Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus" warf den Ermittlern vor, über Jahre wichtige Aspekte ignoriert zu haben. Von Jo Goll
Bianca Klose trägt ihre Erkenntnisse zur rechtsextremen Anschlagsserie in Neukölln ruhig, aber dennoch engagiert vor. Seit rund 20 Jahren leitet sie die "Mobile Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus" (MBR), die sich als Berater für Menschen und Institutionen versteht, die mit Neonazis Probleme haben. So berät die MBR etwa Schulen oder Kultureinrichtungen, die von Rechtsextremen ins Visier genommen werden. Aber auch bedrohte Kommunalpolitiker- und Politikerinnen holen sich Rat bei MBR-Experten.
Am Freitag hörte der Untersuchungsausschuss, der die rechte Anschlagserie im Südosten Berlins aufklären soll, Bianca Klose als erste Sachverständige. Bei ihren Ausführungen betont Klose immer wieder, es sei den Ermittlern viel zu spät klar geworden, dass es sich bei diesen wiederkehrenden Attacken um zwei Serien handelt. Gezielt hätten Neonazis schon seit dem Jahr 2009 unter dem Label "NW-Berlin" Personen aus linken und antifaschistischen Gruppen angegriffen, aber zunehmend auch engagierte Mitarbeiter aus Kirchengemeinden, der Jugendarbeit sowie Gewerbetreibende. Häufig hätten die Täter nach ihren Attacken den gesprühten Schriftzug "NW-Berlin.net" hinterlassen.
Bei den Tätern, so Kloses Einschätzung, habe es sich um langjährig aktive und polizeibekannte Szene-Angehörige gehandelt. Ein Großteil der Taten sei schon damals dem rechtsextremen Netzwerk "NW-Berlin" zuzuordnen gewesen.
Zwei Wellen seit 2009
Klose spricht im Untersuchungsausschuss von zwei Anschlagsserien seit 2009. Nach ihren Worten habe der mehrfach vorbestrafte Neonazi Sebastian T. schon in der ersten Anschlagsserie von 2009 bis 2015 als einer der Tatverdächtigen gegolten. T. muss sich seit August vor dem Amtsgericht Tiergarten unter anderem wegen der Brandstiftungen auf die Fahrzeuge des Linken-Politikers Ferat Kocak und des Buchhändlers Heinz Ostermann verantworten.
Die zweite Anschlagswelle habe, so Kloses Analyse, in den Jahren 2016 bis 2019 stattgefunden. Auch in dieser Zeit, nach einer Pause und einem mehrmonatigen Gefängnisaufenthalt des Hauptverdächtigen Sebastian T., habe es "staatliche Fehleinschätzungen" und "Unterlassungen im Behördenhandeln" im Umgang mit "NW-Berlin" gegeben.
Feindmarkierungen und Feindeslisten
Da weder Polizei noch Verfassungsschutz in der Lage gewesen seien, das etwa ein Dutzend Personen umfassende Netzwerk "NW-Berlin" aufzudecken, sei es den Rechtsextremisten möglich gewesen, ungestört engagierte Personen auszuspähen und entsprechende Feindeslisten anzulegen. Viele der dort gelisteten Personen und Einrichtungen seien in der Folge Ziel von Anschlägen, von gesprühten Drohungen an ihren Häusern sowie von Stein- und Farbflaschenangriffen auf ihre Wohnungen geworden. Bis hin zu Brandstiftungen an Häusern und Autos. Möglicherweise, so Klose weiter, hätten ausbleibende Ermittlungserfolge die Rechtsextremisten in ihrem Handeln ermutigt. Ihre Begründung: Die Angriffe hätten mit der Zeit immer weiter zugenommen und seien gefährlicher geworden – vor allem, indem gezielt Feuer gelegt wurde.
Klose beobachtete, wie sie den Ausschussmitgliedern erklärt, dass die Rechtsextremisten durch den "offenbar fehlenden Repressionsdruck" zunehmend selbstbewusster wurden - während die Betroffenen von staatlichen Stellen zugleich nicht die notwendige Aufmerksamkeit und Unterstützung erhielten. Dadurch, so Klose, sei bei den Rechtsextremisten "ein Gefühl der Unbesiegbarkeit entstanden".
Kritik an der Arbeit der Ermittler
Auf Nachfrage der Abgeordneten kritisierte die Rechtsextremismus-Expertin mehrfach die Arbeit der ermittelnden Beamten. So seien Hinweise von Betroffenen zur Spurensicherung nicht ernst genommen worden, Polizeibeamte -und Beamtinnen hätten es bei ihren Ermittlungen in mehreren Fällen unterlassen, Beweismittel zu sichern. Auch seien Ermittlungsverfahren schon nach kurzer Zeit eingestellt worden.
Dabei hätten die Behörden selbst in den Jahren 2009 bis 2016 von einer Serie gesprochen. Früher einsetzende Observationen gegen die Tatverdächtigen hätten Schlimmeres verhindern können, findet Klose. Die 49-Jährige kommt zu dem ernüchternden Ergebnis: "Wenn die Strafverfolgungsbehörden die Taten ab 2009 entschlossener verfolgt hätten, hätte es vermutlich die Serie ab dem Jahr 2016 nicht gegeben."
Polizeiliche Datenabfragen sorgen für weiteres Misstrauen
Neben mangelnder Ermittlungsarbeit sorgten laut Klose nach 2016 auch mögliche Datenweitergaben an Rechtsextreme aus Abfragen in polizeilichen Datenbanken für Verunsicherung und Misstrauen bei den Betroffenen. Ungeklärt, so Klose, seien bis heute auch möglicherweise unbegründete polizeiliche Datenabfragen zu Betroffenen von rechtsextremen Angriffen im Auskunftssystem der Berliner Polizei. Im Fall eines Geschädigten habe sogar die Datenschutzbeauftragte des Landes Berlin nicht nachvollziehbare polizeiliche Datenabfragen beklagt und dabei der Berliner Polizei mangelnde Kooperationsbereitschaft vorgeworfen. In diesem und anderen Fällen fordert Klose weitere Ermittlungen, hier müsse dem Verdacht einer möglichen Komplizenschaft nachgegangen werden. Ein Polizist, der im Linksextremismus-Dezernat tätig war, ist für die Verschickung von Drohbriefen an mutmaßlich linke Personen bereits rechtskräftig verurteilt worden.
Fraktionsübergreifend attestierten die Abgeordneten am Freitag der Arbeit der MBR eine hohe Wertschätzung. Das 46-seitige Gutachten zur Neuköllner Anschlagsserie, das die Initiative den Abgeordneten im Vorfeld der Befragung von Bianca Klose zur Verfügung gestellt hat, sei eine wertvoller Baustein zur Untersuchung des Behördenhandelns im Fall der Neuköllner Anschlagsserie - darin zeigten sich alle Abgeordneten einig.
Nach der knapp dreistündigen Befragung von Bianca Klose wird klar: Den Abgeordneten steht noch viel Arbeit im parlamentarischen Untersuchungsausschuss bevor.
Sendung: rbb24 Abendschau, 25.11.2022, 19:30 Uhr