Betroffene über neues Bürgergeld - "Das ist absolut notwendig, aber warum erst jetzt?"
Ab Januar sollen Arbeitslose oder Bedürftige Bürgergeld statt Hartz-IV-Unterstützung erhalten. Im Mittelpunkt stehen dabei neben mehr Geld auch Fort- und Weiterbildung. Ein neuer Ansatz, der aber für manche zu spät kommt. Von Wolf Siebert
Friederike Böttcher ist arbeitslos und hat viel Zeit. Fast jeden Tag geht sie sieben Kilometer spazieren, meistens durch den Volkspark Friedrichshain. Das tut ihrem Rücken gut. Aufgrund einer chronischen Erkrankung musste sie ihren Beruf als Erzieherin aufgeben: "Bücken geht gar nicht, das Stehen fällt mir auch schwer", sagt die 59-Jährige. Nur beim Gehen hat sie keine Schmerzen. Seit zwölf Jahren bezieht sie Hartz IV-Leistungen, eine von rund 5,4 Millionen Menschen in Deutschland.
Im Oktober 2021 hatte sie rbb|24 erstmals ihre Situation geschildert. Damals ging es um die Höhe des Hartz IV-Regelsatzes. Der sei viel zu niedrig, hatte sie kritisiert, denn durch die Inflation sei alles teurer geworden. Beim neuen Bürgergeld wird die Inflation zwar berücksichtigt, aber der Regelsatz sei immer noch nicht hoch genug, sagt Böttcher: "Die Kaufkraft sinkt ja immer stärker. Und Strom, Kleidung, Kontogebühren – alles ist teurer geworden." Bis zur Corona-Pandemie hatte sie noch 1-Euro-Jobs oder arbeitete im Bundesfreiwilligendienst. Dadurch konnte sie sich wenigstens ab und zu etwas leisten und sogar ein bisschen Geld zurücklegen. Das sei nun weggefallen.
Aber Böttcher sieht beim neuen Bürgergeld auch Positives: Weiterbildung und Qualifizierung haben nun Priorität, nicht mehr die Vermittlung in eine arbeitspolitische Maßnahme oder in eine "Beschäftigung" wie einen Helfer-Job.
Qualifikation und Ausbildung haben nun Vorrang
Die Empfänger von "Bürgergeld" und ihre Betreuer im Jobcenter erarbeiten gemeinsam einen "Integrationsplan". Ein intensives Coaching soll vor allem den Menschen helfen, die nur geringe schulische oder berufliche Qualifikationen haben - oder eben andere Probleme. Am Ende dieses Prozesses sollen sie wieder eine Arbeit mit Perspektive bekommen.
Ein "Weiterbildungsbonus", also eine zusätzliche monatliche Unterstützung, soll die Empfänger von Bürgergeld zusätzlich motivieren. Ausbildungsphasen können nun um ein Jahr auf drei Jahre verlängert werden. Viele Experten und Hartz IV-Berater halten das Ziel "Weiterbildung" für das wichtigste Element der Reform, wenn es konsequent umgesetzt wird.
Fortbildungen waren nicht immer sinnvoll
Bei Friederike Böttcher war das anders. "Ich wollte eine Ausbildung zur Gebärdendolmetscherin machen. Das Amt wollte mir das aber nur als Teil einer Ausbildung zur Tourismusassistentin genehmigen, für zwei Jahre. Das hätte niemals gereicht, denn Gebärdendolmetschen ist so anspruchsvoll wie das Erlernen einer Sprache."
Auch den Beruf als Bürokauffrau hätte sie sich vorstellen können. Stattdessen seien ihr ein Bewerbungstraining und ein Computerkurs angeboten worden. "Da waren einige sinnlose Angebote dabei. Als Hartz IV-Empfänger stehst Du oft unter dem Generalverdacht faul und dumm zu sein", sagt sie.
Hartz IV-Reform war überfällig
Den Abschied vom System Hartz IV und den Start des Bürgergeldes hält Böttcher für richtig. "Das ist absolut notwendig, aber warum erst jetzt, im 18. Jahr von Hartz IV?"
Für sie selbst kommt die Reform wahrscheinlich zu spät. Da ihre Krankheit mit den Jahren schlimmer geworden ist, kann sie pro Tag lediglich sechs Stunden auf sein. Einen Job zu finden, zum Beispiel halbtags, sei schwer. Das Jobcenter habe ihr empfohlen, in Rente zu gehen. Im kommenden Jahr wird Friederike Böttcher 60 Jahre alt.
Sendung: rbb24 Inforadio, 30.12.2022, 07:55 Uhr
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