Betroffene über neues Bürgergeld - "Das ist absolut notwendig, aber warum erst jetzt?"

Mo 02.01.23 | 09:58 Uhr | Von Wolf Siebert
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Friederike Böttcher an in Berlin Mitte. (Quelle: privat)
Audio: rbb24 Inforadio | 02.01.2023 | W. Siebert | Bild: privat

Ab Januar sollen Arbeitslose oder Bedürftige Bürgergeld statt Hartz-IV-Unterstützung erhalten. Im Mittelpunkt stehen dabei neben mehr Geld auch Fort- und Weiterbildung. Ein neuer Ansatz, der aber für manche zu spät kommt. Von Wolf Siebert

Friederike Böttcher ist arbeitslos und hat viel Zeit. Fast jeden Tag geht sie sieben Kilometer spazieren, meistens durch den Volkspark Friedrichshain. Das tut ihrem Rücken gut. Aufgrund einer chronischen Erkrankung musste sie ihren Beruf als Erzieherin aufgeben: "Bücken geht gar nicht, das Stehen fällt mir auch schwer", sagt die 59-Jährige. Nur beim Gehen hat sie keine Schmerzen. Seit zwölf Jahren bezieht sie Hartz IV-Leistungen, eine von rund 5,4 Millionen Menschen in Deutschland.

Im Oktober 2021 hatte sie rbb|24 erstmals ihre Situation geschildert. Damals ging es um die Höhe des Hartz IV-Regelsatzes. Der sei viel zu niedrig, hatte sie kritisiert, denn durch die Inflation sei alles teurer geworden. Beim neuen Bürgergeld wird die Inflation zwar berücksichtigt, aber der Regelsatz sei immer noch nicht hoch genug, sagt Böttcher: "Die Kaufkraft sinkt ja immer stärker. Und Strom, Kleidung, Kontogebühren – alles ist teurer geworden." Bis zur Corona-Pandemie hatte sie noch 1-Euro-Jobs oder arbeitete im Bundesfreiwilligendienst. Dadurch konnte sie sich wenigstens ab und zu etwas leisten und sogar ein bisschen Geld zurücklegen. Das sei nun weggefallen.

Aber Böttcher sieht beim neuen Bürgergeld auch Positives: Weiterbildung und Qualifizierung haben nun Priorität, nicht mehr die Vermittlung in eine arbeitspolitische Maßnahme oder in eine "Beschäftigung" wie einen Helfer-Job.

Bürgergeld

Zum 1. Januar 2023 hat das Bürgergeld die bisherige Grundsicherung "Hartz IV" ersetzt. Der Regelsatz des neuen Bürgergelds für alleinstehende Erwachsene beträgt monatlich 502 Euro - statt bisher 449 Euro. Auch Lebenspartner und Kinder erhalten mehr Geld.

Die Freibeträge auf Einkommen zwischen 520 und 1.000 Euro steigen auf 30 Prozent. Außerdem ist ein Weiterbildungsgeld in Höhe von 150 Euro bei Aufnahme von abschlussbezogenen Weiterbildungen eingeführt worden. Im 1. Jahr soll ein Vermögensfreibetrag von 40.000 Euro für einen Single und 15.000 Euro für jede weitere Person im Haushalt gelten.

Qualifikation und Ausbildung haben nun Vorrang

Die Empfänger von "Bürgergeld" und ihre Betreuer im Jobcenter erarbeiten gemeinsam einen "Integrationsplan". Ein intensives Coaching soll vor allem den Menschen helfen, die nur geringe schulische oder berufliche Qualifikationen haben - oder eben andere Probleme. Am Ende dieses Prozesses sollen sie wieder eine Arbeit mit Perspektive bekommen.

Ein "Weiterbildungsbonus", also eine zusätzliche monatliche Unterstützung, soll die Empfänger von Bürgergeld zusätzlich motivieren. Ausbildungsphasen können nun um ein Jahr auf drei Jahre verlängert werden. Viele Experten und Hartz IV-Berater halten das Ziel "Weiterbildung" für das wichtigste Element der Reform, wenn es konsequent umgesetzt wird.

Fortbildungen waren nicht immer sinnvoll

Bei Friederike Böttcher war das anders. "Ich wollte eine Ausbildung zur Gebärdendolmetscherin machen. Das Amt wollte mir das aber nur als Teil einer Ausbildung zur Tourismusassistentin genehmigen, für zwei Jahre. Das hätte niemals gereicht, denn Gebärdendolmetschen ist so anspruchsvoll wie das Erlernen einer Sprache."

Auch den Beruf als Bürokauffrau hätte sie sich vorstellen können. Stattdessen seien ihr ein Bewerbungstraining und ein Computerkurs angeboten worden. "Da waren einige sinnlose Angebote dabei. Als Hartz IV-Empfänger stehst Du oft unter dem Generalverdacht faul und dumm zu sein", sagt sie.

Hartz IV-Reform war überfällig

Den Abschied vom System Hartz IV und den Start des Bürgergeldes hält Böttcher für richtig. "Das ist absolut notwendig, aber warum erst jetzt, im 18. Jahr von Hartz IV?"

Für sie selbst kommt die Reform wahrscheinlich zu spät. Da ihre Krankheit mit den Jahren schlimmer geworden ist, kann sie pro Tag lediglich sechs Stunden auf sein. Einen Job zu finden, zum Beispiel halbtags, sei schwer. Das Jobcenter habe ihr empfohlen, in Rente zu gehen. Im kommenden Jahr wird Friederike Böttcher 60 Jahre alt.

Sendung: rbb24 Inforadio, 30.12.2022, 07:55 Uhr

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Beitrag von Wolf Siebert

53 Kommentare

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  1. 53.

    Traurig macht mich wie man bösartigen Hass, weil man mit sich selbst nicht im reinen ist, auf andere auslassen kann.
    Ich würde, wenn ich etwas zu sagen hätte, die Kommentarfunktion sofort beenden um die Person um die es hier geht vor Anfeindung und Verleumdung von Trollen zu schützen.
    Ich wünsche Frau Böttcher alles Gute und vor allem ein gesundheitlich etwas erträgliches 2023.

  2. 52.

    Mal auf die Idee gekommen, dass nicht jeder so ist wie Sie, nicht immer kann man von sich selbst auf andere schließen...
    - Das gilt jetzt für diverse Kommentatoren hier. -
    Menschen sind verschieden, Probleme sind verschieden, Sie kennen die Frau nicht, und das Wort Empathie scheinbar auch nicht.
    Ich versteh das Problem nicht. Immer nach unten treten. Warum sind Sie alle nur derart unsozial?
    Diese Gesellschaft kotzt mich so an, ich finde keine Worte mehr.

  3. 51.

    Nein, die rufen aber nach einem menschenwürdigen Umgang, genauso wie beim potentiellen Steuerhinterzieher oder Kriminellen.

  4. 50.

    Irrtum, die eigentliche Neiddebatte (ducken und treten) wird überwiegend in der betroffenen Schicht der prekär Beschäftigten selbst geführt.
    Das Phänomen ist so alt wie es gesellschaftliche Organisationen gibt.
    Menschen die über ein gutes Einkommen verfügen, lassen sich mit solchen Sprüchen und Ansichten über Deutschland nicht wirklich in das konservative Lager locken, die kennen den Unterschied und Vorzüge einer SOZIALEN -gegenüber einer freie Marktwirtschaft !

  5. 49.

    Ich glaube sie sollten sich mal mit der Geschichte der ersten Arbeiterpartei Deutschlands beschäftigen, bevor sie versuchen alle „guten“ Sozialdemokraten in das konservative Lager zu stecken.
    Und wenn sie der Meinung sind, dass Altkanzler Kohl Kommunist war, dann scheint bei ihnen im Kopf sowieso einiges schief zu laufen.

  6. 48.

    Es wäre schön, wenn Sieb sich mal mit demselben Engagement gegen die jährlich milliardenschweren Steuerhinterziehungen einsetzten würden.
    Aber das scheint ähnlich wie andere dekadente Einkünfte auf Kosten der Gemeinschaft für sie und ihresgleichen keiner Erwähnung wert zu sein. Schließlich ist ja modernes Raubrittertum Ehrensache und vor allen Dingen „selbst“ hart „erarbeitetes“ Geld was es gilt vor dem Zugriff des Staates zu schützen.

  7. 47.

    Eine weitere nette Ausrede um zu umschreiben das man eigentlich nur zu faul zum arbeiten ist !!!

  8. 46.

    Ich verstehe nicht warum immer so viel Falschinformation vorliegt.

    Weiterbildungen und Umschulung war auch vorher möglich.

    Außerdem frage ich mich warum die Betroffene nicht Erwerbsminderungsrente beantragt hat. Bei einer dauerhaften Behinderung kann man einen Grad der Behinderung beim Versorgungsamt beantragen und beim Rententräger EM-Rente beantragen. Das wurde scheinbar verpasst.

  9. 45.

    "Gefordert wurde immer viel, ..." In der Theorie vielleicht. In der Praxis wissen dagegen viele, wie man ohne jegliche Bemühung durchkommt. So lange man die reine Anzahl an Bewerbungen nachweisen konnte und keine Termine verpasst hat, ist rein gar nichts passiert. Ins Ausland konnte schon mal gar niemand zum Job gezwungen werden. Es gibt Zumutbarkeitsgrenzen, die durchaus umstritten sind, das ist aber ein anderes Thema. Und wie man sich um eine erfolgreiche Einstellung drücken kann, ist den meisten durchaus sehr geläufig. Die Frage nach dem Betriebsrat im Vorstellungsgespräch oder extra dumm stellen, sind da die Klassiker und durchaus sehr erfolgreich. (Nichts gegen Betriebsräte, die sind gut und wichtig, es geht um die Grundeinstellung eines Arbeitnehmers gegenüber der Firma.)

    Was korrekt ist, ist dass die Förderung faktisch auch eingestellt wurde bzw. nur Alibi war.

  10. 44.

    Seien wir mal ehrlich in der Diskussion. Die Armutsquote berechnet sich daraus, dass man weniger als 60 % des mittleren äquivalenzgewichteten Nettohaushaltseinkommens zur Verfügung hat. Im internationalen Vergleich, selbst EU-weit geht es den allermeisten davon immer noch extrem gut. Das ist teilweise ein Jammern auf sehr hohem Niveau. Es kann nicht Aufgabe des Staates sein, jedem einfach mehr Geld hinterherzuwerfen. Es ist seine Aufgabe, jedem die gleichen Chancen zu gewähren, um aus dieser Situation heraus zu kommen bzw. besser gar nicht erst hinein zu kommen. Gerade dabei versagt unser Staat kläglich, sowohl in der Bildung, in der Weiterbildung, bei zu hohen Steuer- und Abgabenlasten, wie auch bei der Rente.

  11. 43.

    „verbliebenen sozialen Kräfte“
    Ja die gibt es, nicht nur in der Sozialdemokratie. Nur ist „verblieben“ eine zu starke Untertreibung, angesichts des Artikels und der Tatsache das über 50% des Haushaltes für Soziales ausgegeben wird. Wenn man den Bogen überspannt, sind die „Rehe“ sehr scheu.....

  12. 42.

    Im Bericht steht „viel Zeit, Rücken, 12 Jahre...
    Das Problem ist, wenn man sich vorstellt, was man in 12 Jahren alles für Anstrengungen nach dem Weckerklingeln unternommen hat um gut zu verdienen und dann Ihren Kommentar noch dazu lesen muss.
    Was für ein Land, wo soetwas möglich ist. Wo gibt es das nochmal? Nur wenn die Wegnehmforderungen immer noch mehr steigen, mit undankbarer Attitüde, dann wird auch der beste Freund des Hauses verwiesen. Wollen Sie verstehen warum?

    P.S. Der Wecker klingelt gleich wieder.

  13. 41.

    Genau, es war die Zerrissenheit innerhalb der SPD und das Hetzen gegen die eigene Reform. Hartz IV hatte reichlich Fehler, die zu sozialen Ungerechtigkeiten geführt haben, aber die Grundzüge waren richtig und mehr als dringend erforderlich. Wer das nicht kapiert hatte, war in der SPD einfach falsch und wäre bei der DKP besser aufgehoben gewesen, denn mit Sozialdemokratie hat das nichts zu tun. Stattdessen hat die Partei selbst die Leute über ihre eigene Reform belogen und tut das eigentlich bis heute. In den ganzen Jahren, in denen die SPD wieder mit an der Regierung beteiligt war, war sie nicht in der Lage und willens, Hartz IV zu reformieren, weil sie in ihrem Tunnelblick ausschließlich dessen Abschaffung im Sinn hatten. Gefördert wurde praktisch gar nichts mehr und gefordert nur sehr wenig. Dafür hat das Niveau der Empfänger wieder das der Krise erreicht, die Schröder zur Reform gezwungen hat.

  14. 40.

    Die von ihnen angesprochenen "verbrieften Grundrechte" verbriefen jedoch keine dauerhafte Alimentierung auf Steuerzahlerkosten. Es rufen nach mehr Sozialleistungen nur die Menschen, die selbst nichts haben, selbst nichts abgeben, selbst nichts teilen. Nur diese Menschen fordern laut: Ich will, Ich brauche, Mir steht das zu!

  15. 39.

    Manche leben schon in der 4. Generation so. Das ist für diese Familien normal, nicht zu arbeiten und von der Gemeinschaft versorgt zu werden. Klappt nur in Deutschland, daher kommen auch alle Migranten gerne hierher!

  16. 38.

    Hey, ein Entlastungsvorschlag: Arbeiten gehen. Ich sehe hier überall in Berlin Aushänge "Unser Team sucht Verstärkung" und die Hinzuverdienstgrenzen wurden ja auch verbessert. Also selbst aktiv werden, könnte hier helfen...

  17. 37.

    Ja, bin ganz Ihrer Meinung. Mein Mann hat 2 Jahre ein Fernstudium bei 40 Stundenwoche und Kleinkind absolviert.
    Ich habe Stunden reduziet und wir haben den Gürtel enger geschnallt und die fehlende Freizeit nachgeholt, da auch im Urlaub gelernt werden musste.
    Das Jobcenter kann etwas anbieten, aber man muss schon selber sich angagieren. Es gibt auch noch die Zeitarbeitsfirmen, über diese kommen auch wieder viele in den ersten Arbeitsmarkt, wenn man will !!!

  18. 36.

    In der Tat war die Agenda 2010 der Totengräber für die SPD. Die Zahlen belegen das. Das Ergebnis ist eine hohe Armutsquote von 13,5 Mio Menschen die heute in Deutschland leben. Auch hier kann man die Zahlen gerne bei destatis.de überprüfen. Andererseits sind die Einkommen der Reichen gewaltig gestiegen. Es hat eine Umverteilung von unten nach oben stattgefunden. Die Ergebnisse sehen alle jeden Tag und heute sogar bei den kriegerischen Situationen an Silvester. Das ist das Ventil.

  19. 35.

    Vielen Dank für den guten Kommentar.
    Auch den Hinweis sie mögen niemals arbeitslos werden, kann ein Hinweis sein. Wer behauptet denn, dass die sehr Empathischen Kommentare als Arbeitnehmer angestellt sind. Es bestünde ja auch die Möglichkeit der Einkünfte aus Kapitalvermögen, und selbstverständlich sind die am lautesten brüllen, frei von jeder direkten und indirekten Beteiligung an cumEx. Auch habe sie keinen Vorteil, Preisvorteil, in den Aktien Depots erzielt. Wieviel 10^x EUR Steuern, kapitalErtragSteuer, war das nochmal.
    Viel spannender ist die Frage wer und mit welcher Intention sowie Inhalt, auf ihren Betrag reagierte. Nun ist halt so. Das gehört zum Klavier dazu. Das gehört zur Neid... dazu. Nach unten treten und

  20. 34.

    Ist es jetzt etwas erstrebenswert sich eine kaputte Wirbelsäule zu erarbeiten oder unter Schmerzmitteln Regale einzuräumen?
    Also bei machen scheint der Kompass schon ziemlich weit verschoben. Da lautet das Motto wohl,wenn es mir schlecht geht,soll es den anderen auch schlecht gehen. Bloß nicht für alle die Bedingungen verbessern.
    Aber gut,lebenslange Konditionierung in unserer Gesellschaft lässt solche Ansichten wohl entstehen.

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