Interview | Israelischer Autor Etgar Keret - "Dieser Krieg ist ein Weckruf für alle denkenden Personen"
Etgar Keret ist einer der bekanntesten Autoren Israels und hat sich immer wieder für einen Frieden mit den Palästinensern ausgesprochen. Ein Gespräch über das, was der Krieg ihn gelehrt hat - und welche Art von Solidarität er sich nun wünscht.
rbb|24: Herr Keret, wie haben Sie die letzten Tage seit dem Angriff der Hamas auf Israel verbracht?
Etgar Keret: Seit Beginn des Krieges probieren meine Frau und ich, einfach dort zu helfen, wo wir können. In unserem Fall hieß das, dass wir Lesungen für Kinder gemacht haben. Kinder, die aus den Kibbuzim kommen, in denen Massaker stattgefunden haben. Für Kinder aus anderen Gegenden, die Angst vor den Raketen haben, machen wir Online-Lesungen. Wir treffen uns mit älteren Menschen, mit Soldaten. Es ist nicht viel, was wir machen. Es ist ein Versuch einer kleinen Erinnerung an Menschlichkeit, an eine Sensibilität, die in diesen Zeiten oftmals weggedrückt wird.
Die Angriffe vom 7. Oktober stellen eine Zäsur in der israelischen Geschichte dar. Inwiefern trifft das auf Ihr Leben zu?
An diesem Tag mussten Israelis feststellen, dass das, was wir für die Realität hielten, tatsächlich anders ist. Ich kann ein Beispiel geben. Ich dachte immer, der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern wäre eine lokale Angelegenheit. In etwa so: Wir sollten ihnen Land geben, denn wir sind Nachbarn und wir können sie nicht unterdrücken. In etwa so wie ein Streit zwischen Nachbarn. Und jetzt realisiere ich, dass dieser Konflikt ein Weltkonflikt ist. Es ist im Grunde der Iran, der stellvertretend die USA bekämpft. Und wir sind nur ein Mittel, um an die USA ranzukommen.
Was haben Sie noch gelernt?
Dass es der Hamas nicht um Territorien geht. Es ist der Versuch eines Völkermordes. Aber nicht nur Juden, auch Beduinen, religiöse Muslime, Arbeitskräfte aus Thailand und den Philippinen wurden hingerichtet. Die Hamas ist eine islamistische, fundamentalistische Organisation, die vergleichbar mit dem Islamischen Staat ist. Die Hamas kämpft nicht für palästinensische Interessen.
In Großstädten in der ganzen Welt, auch in Berlin, finden gerade viele pro-palästinensische und anti-israelische Demonstrationen statt. Wie blicken Sie darauf?
Ich kann mir das ganz einfach erklären. Die Palästinenser werden seit Jahrzehnten unterdrückt und sie haben es verdient, ein eigenes Land zu haben. Aber man muss hier eine Unterscheidung machen. Wenn du von deinem Vermieter auf eine unfaire Art und Weise rausgeschmissen wirst und du dann auf der Straße landest, dann ist das furchtbar und man muss sich darum kümmern. Aber wenn du dann deinen Vermieter tötest und seine Familie folterst, dann ist das nicht zu tolerieren.
Ich bekomme auch mit, was an den Universitäten in den USA passiert. Wenn an Orten, an denen intelligente Menschen sind, behauptet wird, dass das Massaker in Israels Verantwortung liegt, dass das Köpfen von Babys oder das Verbrennen von Menschen einfach nur der Teil einer Entwicklung ist, dann ist das eine Entmenschlichung und eine Vereinfachung, die wirklich eine Beleidigung ist.
Welche Art von Solidarität wünschen Sie sich?
Ich würde mir wünschen, dass Menschen ihre Augen und ihr Herz öffnen, reflektieren, kritisch sind, wenn sie helfen wollen. Ich habe das Gefühl, dass wir in einer Zeit leben, in der Aktivismus bedeutet, jemand anderen zu beleidigen und anzugreifen. Hier im Nahen Osten haben wir Bedürfnisse. Wirkliche Bedürfnisse. Aktivismus heißt also Medikamente schicken, Freiwilligenarbeit leisten. Ich schätze jeden, der Freiwilligenarbeit für Palästinenser leistet und der Israelis hilft. Wenn man etwas machen möchte: Macht etwas, das menschlich ist.
Ich erinnere mich gerade an einige Dinge, die meine Eltern mir beigebracht haben. Meine Eltern waren Holocaust-Überlebende. Eine der stärksten Erinnerungen, die ich habe, ist, dass ich als Kind meinen Vater fragte, ob der Holocaust die schlimmste Zeit seines Lebens war. Und mein Vater lächelte mich an und sagte, dass er glaubt, dass es keine guten und schlechten Zeiten im Leben gebe. Sondern nur herausfordernde und leichte Zeiten. Und es gebe einen Vorteil dieser herausfordernden Zeiten. Nämlich, dass man in dieser Zeit am meisten über sich selbst lernt.
Ich habe das Gefühl, dass der Krieg ein Weckruf ist. Ein Weckruf für alle. Es ist ein Weckruf für deutsche Liberale, die die Hamas unterstützt haben und gedacht haben, dass sie für einen palästinensischen Staat kämpfen. Es ist auch ein Weckruf für Israelis, die dachten, sie könnten sich mit ihren internen Problemen beschäftigen, und die Tatsache vergessen, dass es Palästinenser gibt, die kein eigenes Land haben, die unter Besatzung oder Blockade leben. Es ist ein Weckruf für alle denkenden Personen. Daher ist meine Bitte an alle Menschen: Stellt euren Fernseher aus, schaltet euren Computer ab, schließt eure Augen und atmet tief ein. Und dann fragt euch, was ihr denkt. Könnt ihr Komplexität zulassen, wenn Leute probieren, die Dinge zu vereinfachen?
Wie nehmen Sie die Reaktion der israelischen Regierung wahr?
Ich denke, dass Israel gerade in einer der schwierigsten Phasen seiner Geschichte ist. Es ist so, wie wenn man schwanger ist. Und dann fährt dich ein Taxi zum Krankenhaus. Man würde sich doch wünschen, dass der Fahrer ehrlich und empathisch ist. Jemand, der sich um andere kümmert und nicht nur an sich selbst denkt.
Was ich damit sagen will: Wir sind gerade auf dieser Taxifahrt. Wir befinden uns in einer sehr, sehr extremen Situation. Und es wäre so viel besser in dieser Situation, wenn wir jemanden hätten, der alles dafür tut, um den Leuten in den Kibbuzim, die dort massakriert worden sind, zu helfen. In der ersten Woche dieser ganzen Geschichte habe ich in Netanyahus Reden nicht einmal das Wort Kibbuz gehört.
Meine eine Hoffnung ist, dass es, wenn der Krieg vorbei ist, im Nahen Osten weder eine Hamas noch Netanyahu geben wird.
Haben Sie Hoffnung auf Frieden?
Das ist die Ungeduld der ausländischen Medien, kurz nachdem Tausende Menschen massakriert worden sind zu fragen: Wann kommt der Frieden? Passiert es vor oder nach der Fernsehwerbung? Ich will sagen: Wir alle sehnen uns nach Frieden. Wir alle wollen Frieden. Aber ich glaube, dass es einen langen Krieg mit vielen Toten geben wird. Ich will das nicht. Aber ich sehe keinen anderen Weg.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Marie Röder
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