Expertendiskussion - Berlin bei Verfolgung antisemitischer Straftaten "vorbildlich"
Nach Äußerungen von Experten sind die Behörden in Berlin beim Vorgehen gegen Antisemitismus besonders engagiert. Die Polizei setzt auf Fortbildungen und Transparenz, wie Vertreter bei einer Diskussionsrunde schildern. Von Maria Ossowski
Schon als Kind sei er daran gewöhnt gewesen, dass jüdische Kindergärten, Schulen und Synagogen bewacht werden müssen, sagt Ronen Steinke. Der 40-jährige Jurist und Publizist findet es unerträglich, dass sich eine religiöse Minderheit in diesem wohlhabenden, sicheren Land nirgendwo ungeschützt versammeln könne, "ohne dass man sofort Gefahr für Leib und Leben hat", wie er sagt. "Das wäre in jedem Land der Welt ein Skandal oder ein Missstand."
Steinke, der Redakteur bei der "Süddeutschen Zeitung" ist, verweist auf die deutsche Geschichte: Die Bundesrepublik Deutschland sei als "Antithese zu Antisemitismus und Nationalsozialismus" gegründet worden, stellt er am Montagabend bei einer Diskussionsrunde im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors. "Dass dann nach bald 75 Jahren Grundgesetz und Demokratie dennoch der Befund ist: 'Jüdisches Leben gibt es nicht in freier Form, sondern hinter Mäuern und Zäunen, in einem Belagerungszustand' - das ist eine Schande", so Steinke.
Hohe Steigerungsrate bei Straftaten
Pöbeleien, Drohungen, Schläge, an Häuser geschmierte Davidsterne, Beleidigungen, Brandanschläge: Die Anzahl antisemitischer Straftaten wächst kontinuierlich, besonders aber seit dem Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober. Der Dachverband der Meldestellen für antisemitische Vorfälle (Rias) spricht von einer Steigerung um 240 Prozent.
Doch die Betroffenen stellen nicht immer Strafanzeige. "In vier von fünf Fällen ist die Reaktion: Ich fresse es in mich rein und mache das mit mir selber aus", sagt Steinke. "Weil ich die Erwartung habe: Wenn ich zur Polizei gehe, entweder ist mir gar nicht geholfen worden, ich habe nur Zeit verschwendet oder mein Problem ist sogar noch größer."
Berlin laut Expertin in Vorreiterrolle
Winfrid Wenzel ist Kriminaldirektor und Antisemitismusbeauftragter der Polizei Berlin. Er schätzt ein, dass es überlastete Beamte gäbe, die meinen, sich nicht auch noch um die Probleme der Minderheiten kümmern zu können. Er sieht dies aber als Einzelfälle. Wenzel tauscht sich mit jüdischen Organisationen aus, organisiert Fortbildungen, will Polizeibeamte sensibilisieren, aber auch ganz konkret werden - zum Beispiel in den Dienstellen, die Anzeigen aufnehmen: "Das sind ganz praktische Leitfäden und Hinweise, die unter anderem hohe jüdische Feiertage beinhalten, die von uns aktiv kommuniziert werden." Aber auch bestimmte Stereotype antisemitischer Täter und antisemitisches Täterverhalten seien wichtiger Inhalt, schildert Wenzel bei der Diskussionsveranstaltung unter dem Titel "Aus der Geschichte lernen. Der Umgang mit Antisemitismus in Polizei und Justiz".
Die Fortbildungen fänden, gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft und der Polizei Brandenburg, einmal im Jahr in Königs Wusterhausen bei einer Fachtagung statt.
Wenn ein Verfahren einer antisemitischen Straftat in Berlin eingestellt wird, verschicken die Behörden keine Vordrucke mit allgemeinen Formulierungen. Stattdessen wird auf die Tat und die Gründe, warum sie nicht weiter verfolgt wird, spezifisch eingegangen. Ein beispielhafter Grund wäre zum Beispiel, dass die Täter nicht ermittelt werden konnten.
Juristin Ulrike Lembke, Expertin für rechtliche Antisemitismusforschung, ist der Ansicht, dass Polizei und Justiz in der Hauptstadt besonders engagiert gegen das Problem Judenhass vorgehen: "Berlin ist ausgesprochen vorbildlich", sagte sie. Gerade Polizei und die Staatsanwaltschaft seien in gutem Austausch. "Es gibt Leitfäden, es gibt spezialisierte Abteilungen, es gibt Fortbildungen, die in Anspruch genommen werden, es gibt einen verstetigten Austausch mit Betroffenen und Organisationen. Man merkt, das ist eine lernende Institution", so Lembke.
Versammlungsfreiheit muss gewahrt werden
Das gilt, so Lembke, nicht für alle Bundesländer. Deutschlandweit seien hin und wieder Chatgruppen zwischen Polizeibeamten mit antisemitischen Äußerungen aufgeflogen. Ronen Steinke fordert, Beamte sofort zu entlassen, die sich antisemitisch äußern. Er wisse aber, wie schwierig das arbeitsrechtlich sei, sagt er.
Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte müssen antisemitische Straftaten konsequent verfolgen - so der Konsens der Diskussion im Dokumentationszentrum.
Gleichzeitig, so Ronen Steinke, dürfe das Grundrecht der Versammlungsfreiheit bei Demonstrationen nicht beschädigt werden: "Friedlich, ohne Waffen, an der frischen Luft, da sagen wir uns unsere Meinung ins Gesicht, ohne mit Baseballschlägern aufeinander loszugehen. Das hat etwas Produktiveres für die gesamte Gesellschaft, als wenn wir das nicht tun."
Am Wochenende demonstrierten Menschen auf verschiedenen Veranstaltungen in Berlin sowohl spezifisch gegen Antisemitismus, als auch gegen den Krieg in Gaza und die Todesopfer auf palästinensischer Seite.
Sendung: rbb24 Inforadio, 21.11.2023, 16 Uhr