Antisemitische Gewalt am 5. November 1923 - Berlins vergessener Pogrom im Scheunenviertel
Schon die Weimarer Republik hatte ein Antisemitismus-Problem. Als das Land 1923 unter Hyperinflation und Massenarbeitslosigkeit litt, wurde die Schuld den Juden zugeschrieben. Am 5. November zog schließlich ein Mob durch das Berliner Scheunenviertel.
Hätte es die Machtübernahme der Nazis 1933 und all die grauenhaften Folgen nicht gegeben, sprächen heute alle über 1923, da ist sich Karsten Krampitz sicher. "Es war die bis dahin schwärzeste Zeit für Juden in Deutschland", sagt der Historiker. Er hat ein Buch über die fast vergessene Welle der Gewalt gegen Juden verfasst: "Pogrom im Scheunenviertel" beschreibt den Antisemitismus in der Weimarer Republik und die Ausschreitungen in Berlin vor 100 Jahren.
Die Weimarer Republik steckte fünf Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs tief in der Krise. Die Preise explodierten im Lauf des Jahres 1923 in einem heute unvorstellbaren Maß - Anfang November kostete ein Brot 140 Milliarden Mark. Not und Elend lieferten auch den Anlass für das Pogrom im überwiegend von jüdischen Zuwanderern aus Osteuropa bewohnten Scheunenviertel.
In vielen osteuropäischen Ländern war es um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert immer wieder zu Pogromen gegen Juden gekommen, insbesondere ab 1881 in Russland nach der Ermordung von Zar Alexander II. In der heutigen Republik Moldau oder Polen war es immer wieder zu Gewaltausbrüchen gegen Juden gekommen. Manche suchten Schutz jenseits ihrer Heimatländer, etwa in Berlin.
Wenige Tage vor Hitlers Putschversuch
"Ich denke, es war eine Kombination aus verschiedenen Ursachen. Der Brotpreis hatte sich versechsfacht innerhalb von einer Woche", sagt Jess Earle, Museumspädagoge und Historiker Centrum Judaicum, der rbb24 Abendschau. Außerdem herrschte große Arbeitslosigkeit. Um Sozialhilfe zu erhalten, mussten sich Bedürftige damals dreimal pro Woche beim Arbeitsamt melden, wie Earle erklärt.
Am Montag den 5. November 1923 waren am Nachmittag vor dem Arbeitsamt Alexanderstraße Tausende Arbeitslose zusammengekommen, in der Hoffnung auf Unterstützungszahlungen. Doch schon kurz nach Öffnung stellte das Amt die Zahlungen ein, angeblich war das Geld ausgegangen. Ein Gerücht besagte, jüdische Geschäftemacher hätten das für die Erwerbslosenhilfe vorgesehene Notgeld aufgekauft. Die "Vossische Zeitung" schrieb von "Agitatoren", die die Menge aufstachelten.
"Die Menschen haben dann angefangen, durch das Scheunenviertel zu ziehen und jüdisch-aussehende Menschen zu verprügeln", sagt Earle. Trupps junger Kerle stürmten außerdem jüdische Geschäfte, plünderten Regale und Kassen, schlugen Ladenbesitzer und Passanten.
Der Boden für diesen scheinbar spontanen Gewaltausbruch war längst bereitet. Antisemitismus sei auch in der Polizei und in der Regierung weit verbreitet gewesen, sagte Krampitz der Nachrichtenagentur DPA. Völkische Gruppen und Nationalsozialisten versuchten, den Staat zu untergraben - nur wenige Tage danach wagte Adolf Hitler in München seinen Putschversuch. Für wirtschaftliche Not wurden Sündenböcke gesucht, und im jüdischen Scheunenviertel schien man sie gefunden zu haben.
Polizei griff erst Stunden nach Beginn der Gewalt ein
Dort hatten sich in den engen Straßen nördlich des Alexanderplatzes sogenannte Ostjuden aus Gebieten des heutigen Polen und der Ukraine angesiedelt. Während des Weltkriegs kamen noch einmal Tausende hinzu, die teils als Zwangsarbeiter in Berliner Fabriken geholt worden waren. Es herrschte Armut und Enge im Scheunenviertel, das sich nordwestlich des Alexanderplatzes befand rund um den heutigen Rosa-Luxemburg-Platz. Es war auch eine eigene Welt mit jüdischen Geschäften, Restaurants und Gebetshäusern.
Die Polizei griff erst Stunden nach Beginn der Gewalt ein. Stattdessen versuchten Angehörige des sogenannten Reichsbunds jüdischer Frontkämpfer, das jüdische Viertel selbst zu schützen. Kurioserweise nahm die Polizei diese Verteidiger fest und nicht die Plünderer. Bekannt wurde auch der Fall des Fleischers Silberberg, der sich den Gewalttätern mit seinem Schlachterbeil entgegenstellte und selbst schwer verletzt wurde. "Es ist auch der Tag, an dem Juden sich gewehrt haben", so Historiker Krampitz gegenüber der DPA.
Sendung: rbb24 Abendschau, 05.11.2023, 19:30 Uhr