Antisemitische Gewalt am 5. November 1923 - Berlins vergessener Pogrom im Scheunenviertel

So 05.11.23 | 12:50 Uhr
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Archivbild: Berlin, Scheunenviertel, Teilansicht des Wohn- und Geschäfts- hauses Neue Schönhauser Straße 17. - Foto, undat., 1920er Jahre. (Quelle: dpa/akg)
Video: rbb24 Abendschau | 06.11.2023 | Bild: dpa/akg

Schon die Weimarer Republik hatte ein Antisemitismus-Problem. Als das Land 1923 unter Hyperinflation und Massenarbeitslosigkeit litt, wurde die Schuld den Juden zugeschrieben. Am 5. November zog schließlich ein Mob durch das Berliner Scheunenviertel.

Hätte es die Machtübernahme der Nazis 1933 und all die grauenhaften Folgen nicht gegeben, sprächen heute alle über 1923, da ist sich Karsten Krampitz sicher. "Es war die bis dahin schwärzeste Zeit für Juden in Deutschland", sagt der Historiker. Er hat ein Buch über die fast vergessene Welle der Gewalt gegen Juden verfasst: "Pogrom im Scheunenviertel" beschreibt den Antisemitismus in der Weimarer Republik und die Ausschreitungen in Berlin vor 100 Jahren.

Die Weimarer Republik steckte fünf Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs tief in der Krise. Die Preise explodierten im Lauf des Jahres 1923 in einem heute unvorstellbaren Maß - Anfang November kostete ein Brot 140 Milliarden Mark. Not und Elend lieferten auch den Anlass für das Pogrom im überwiegend von jüdischen Zuwanderern aus Osteuropa bewohnten Scheunenviertel.

In vielen osteuropäischen Ländern war es um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert immer wieder zu Pogromen gegen Juden gekommen, insbesondere ab 1881 in Russland nach der Ermordung von Zar Alexander II. In der heutigen Republik Moldau oder Polen war es immer wieder zu Gewaltausbrüchen gegen Juden gekommen. Manche suchten Schutz jenseits ihrer Heimatländer, etwa in Berlin.

Die Menschen haben dann angefangen, durch das Scheunenviertel zu ziehen und jüdisch-aussehende Menschen zu verprügeln.

Jess Earle, Historiker

Wenige Tage vor Hitlers Putschversuch

"Ich denke, es war eine Kombination aus verschiedenen Ursachen. Der Brotpreis hatte sich versechsfacht innerhalb von einer Woche", sagt Jess Earle, Museumspädagoge und Historiker Centrum Judaicum, der rbb24 Abendschau. Außerdem herrschte große Arbeitslosigkeit. Um Sozialhilfe zu erhalten, mussten sich Bedürftige damals dreimal pro Woche beim Arbeitsamt melden, wie Earle erklärt.

Am Montag den 5. November 1923 waren am Nachmittag vor dem Arbeitsamt Alexanderstraße Tausende Arbeitslose zusammengekommen, in der Hoffnung auf Unterstützungszahlungen. Doch schon kurz nach Öffnung stellte das Amt die Zahlungen ein, angeblich war das Geld ausgegangen. Ein Gerücht besagte, jüdische Geschäftemacher hätten das für die Erwerbslosenhilfe vorgesehene Notgeld aufgekauft. Die "Vossische Zeitung" schrieb von "Agitatoren", die die Menge aufstachelten.

"Die Menschen haben dann angefangen, durch das Scheunenviertel zu ziehen und jüdisch-aussehende Menschen zu verprügeln", sagt Earle. Trupps junger Kerle stürmten außerdem jüdische Geschäfte, plünderten Regale und Kassen, schlugen Ladenbesitzer und Passanten.

Der Boden für diesen scheinbar spontanen Gewaltausbruch war längst bereitet. Antisemitismus sei auch in der Polizei und in der Regierung weit verbreitet gewesen, sagte Krampitz der Nachrichtenagentur DPA. Völkische Gruppen und Nationalsozialisten versuchten, den Staat zu untergraben - nur wenige Tage danach wagte Adolf Hitler in München seinen Putschversuch. Für wirtschaftliche Not wurden Sündenböcke gesucht, und im jüdischen Scheunenviertel schien man sie gefunden zu haben.

Polizei griff erst Stunden nach Beginn der Gewalt ein

Dort hatten sich in den engen Straßen nördlich des Alexanderplatzes sogenannte Ostjuden aus Gebieten des heutigen Polen und der Ukraine angesiedelt. Während des Weltkriegs kamen noch einmal Tausende hinzu, die teils als Zwangsarbeiter in Berliner Fabriken geholt worden waren. Es herrschte Armut und Enge im Scheunenviertel, das sich nordwestlich des Alexanderplatzes befand rund um den heutigen Rosa-Luxemburg-Platz. Es war auch eine eigene Welt mit jüdischen Geschäften, Restaurants und Gebetshäusern.

Die Polizei griff erst Stunden nach Beginn der Gewalt ein. Stattdessen versuchten Angehörige des sogenannten Reichsbunds jüdischer Frontkämpfer, das jüdische Viertel selbst zu schützen. Kurioserweise nahm die Polizei diese Verteidiger fest und nicht die Plünderer. Bekannt wurde auch der Fall des Fleischers Silberberg, der sich den Gewalttätern mit seinem Schlachterbeil entgegenstellte und selbst schwer verletzt wurde. "Es ist auch der Tag, an dem Juden sich gewehrt haben", so Historiker Krampitz gegenüber der DPA.

Sendung: rbb24 Abendschau, 05.11.2023, 19:30 Uhr

10 Kommentare

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  1. 10.

    gute Parallelen von damals zu heute die Sie ziehen.Interessant an dem Artikel ist für mich persönlich auch die Täter Opfer Umkehr,außerdem kannte ich diesen Pogrom auch nicht.Für mich ist Verfolgung vom jüdischen Mitmenschen auch verbrämt mit Hass auf das Aussehen und Hass auf den Intellekt oder Habgier auf den fremden Besitz,der wohl bei den damaligen Verhältnissen leicht zu entfachen war.Dass die Weimarer Republik zu der Machtergreifung des NS Regime führte ist hinlänglich bekannt

  2. 9.

    Das stimmt.
    Bedenkt man was alles Einwandernden oder Geflüchteten nachgesagt wird. Stimmt. Da gibt es viele Ähnlichkeiten zu heute.
    Das Scheunenviertel wird ja Ende des 19. Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem als Viertel der Einwandernden (Juden) wahrgenommen.

    Hier kann man noch mehr über die Parallelität von Haltungen, Mobilisierung, Politik lesen - wenn man sich anschaut, wie die Asyl und Einwanderungspraxis /Realität in der Weimarer Republik der 20er 30 Jahre gehandhabt und diskutiert wurde.
    Ziemlich interessant: (Und erschreckend)
    https://www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1706

  3. 8.

    Zur Erinnerung: Der RBB-Beitrag beschreibt antijüdische Ausschreitungen, die im Jahre 1923 unweit des Alexanderplatzes stattfanden. Einen Appell, mich als "lion for juda" zu betätigen (was soll das bitte sein?) kann ich darin nicht erkennen. Vielmehr fühle ich mich verpflichtet, im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten dafür Sorge zu tragen, dass 100 Jahre später hierzulande jüdisches Leben SICHTBAR ungefährdet stattfinden kann.
    So sollte beispielsweise das offene Tragen eines Davidsternes überall und jederzeit ohne Gefahr möglich sein. Ich hoffe, da sind wir einer Meinung.

  4. 7.

    Interessant... das war mir, obwohl geschichtlich doch gut gebildet, bisher nicht bekannt.
    Und ebenso interessant mit Parallelen zu heute: "Ein Gerücht besagte, jüdische Geschäftemacher hätten das für die Erwerbslosenhilfe vorgesehene Notgeld aufgekauft." Damals Gerücht, heute Fake News. Damas Munzumund-Propaganda, heute Social Mediakanäle. Inhalte und Wirkungen auf die Gesellschaft sind dieselben heute wie damals.

  5. 6.

    Es ist keine Zeit für den Hass und Unwahrheit. Die liberale Welt wird bedroht vom Terror. Bitte beschäftigen Sie sich mit den Fakten und der Geschichte und suchen Sie nicht bei den Opfern irgendeine Schuld. Damals und auch heute, sollten Sie über das Ausmaß und die Folgen des Menschenhasses sachlich nachdenken können. Ich wünschte mir, Sie würden weder relativieren noch Täter-Opfer-Umkehr betreiben. Der Hass lässt Menschen nicht mehr an Fakten interessiert sein, der Hass ist wie eine Seuche. Es geht um Menschen in dieser Gesellschaft, die bedroht werden, es geht um die Auslöschung des einzigen Zufluchtortes der Juden, es geht um 200 Geiseln, auch Deutsche, es geht um 1400 gemetzelte Unschuldige. Ich stehe klar hinter den Menschen, die dem Hass ausgeliefert sind. Der Terror muss ausgeschaltet werden, sonst ist niemand frei, auch wir nicht. Dieser Beitrag spricht doch all das aus, was Sie wieder relativieren, wie unsere Vorfahren es oftmals auch taten. Wegsehen und „aber“ sagen.

  6. 5.

    Als aktiver Nachfahre eines Berliner Antifaschisten fallen mir sofort die zwei Sätze ein: ´Die Toten mahnen uns!´ und ´Nie wieder Faschismus!´
    ´Kurioserweise nahm die Polizei diese Verteidiger fest und nicht die Plünderer.´ ---Kommt mir sehr bekannt vor! Manche Dinge ändern sich nie!

    Leider fällt es zur Zeit sehr schwer, uneingeschränkt, ein ´lion for juda´ zu sein!
    Die Geschichte liefert wieder ein blutiges Beispiel dafür. Was passiert, wenn Hass und Verzweiflung die Menschen in die Hände von Extremisten treiben. Und andere davon profitieren...

  7. 4.

    Mich hat Ihre Geschichte auch sehr berührt. Das muss man so stehen und wirken lassen. Herzlichen Dank dafür!

  8. 3.

    Vielen Dank für Ihre Geschichte. Sie können sehr stolz sein und wieder sind wir Menschen gefragt,Haltung zu zeigen.

  9. 1.

    Jüdische Mitbürger hatten eingedeutschte Namen, waren friedlich und fleißig. Nichts, aber auch gar nichts an ihnen war anders, als bei allen anderen. Es waren Menschen innerhalb der Gesellschaft, keine Randgruppen. Meine Großmutter arbeitete in diesen Zeiten für einen jüdischen Professor mit Familie in Potsdam. Dieser floh mit seiner Familie rechtzeitig nach Amerika, wollte meine Großmutter (16) mitnehmen, sie war zu jung und hatte Heimweh und blieb. Nie hätte sie nettere und großmütigere Menschen kennengelernt. Meine Großmutter war ein Mensch mit dem Herzen am rechten Fleck. Sie machte keine Unterschiede zwischen Mensch und Mensch. Anfang des Krieges versorgte sie Kriegsgefangene mit Brot, konnte die Hungernden in ihrem Leid nicht lassen, wurde denunziert und tagelang verhört, von der Gestapo. Heute steht sie im Lexikon des Widerstandes in Berlin und ich bin stolz auf sie.

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