Theaterkritik | "Leonce und Lena" am Deutschen Theater - Von wegen Lustspiel
Ulrich Rasche inszeniert Büchners "Leonce und Lena" als düsteren Abgesang auf den politischen Widerstand des Menschen. Am Deutschen Theater bleiben von dem Stoff aber nur zusammenhanglose Versatzstücke übrig. Von Barbara Behrendt
Ein Chor aus schwarz vermummten Gestalten schreitet raubtierartig über die Drehbühne und skandiert eine politische Protestschrift, die zunächst klingt, als wollten die Menschen gleich das Reichstagsgebäude stürmen: "Was sind die Verfassungen? Nichts als leeres Stroh. Was sind unsere Landtage? Nichts als langsame Fuhrwerke. Was sind unsere Wahlgesetze? Nichts als Verletzungen der Bürger- und Menschenrechte."
Geradezu unheimlich, wie gegenwärtig die Sätze aus Georg Büchners Flugschrift "Der hessische Landbote" aus dem Jahr 1834 noch immer wirken.
Büchner schrieb natürlich nicht gegen demokratische Verhältnisse an, sondern rief zur Revolution gegen die Tyrannei des Großherzogs auf. Auch auf der Bühne wird das bald deutlich: "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!", heißt es am Freitagabend bei der Inszenierung von "Leonce und Lena" am Deutschen Theater in Berlin.
Ein Damoklesschwert hängt über dem Ensemble
Zu dröhnenden Beats, die vier Musikerinnen und Musiker live auf der Bühne einspielen, marschieren die Schauspieler:innen im Kreis und formieren sich immer wieder neu. Kein Laufband, keine Walze, keine Drehscheibe dominiert diesmal Ulrich Rasches Inszenierung, sondern ein gigantisches Gitter aus Neonröhren hängt wie ein Damoklesschwert über dem Ensemble. Mal leuchtet es blutig rot, dann eiskalt weiß. Mal senkt es sich wie eine Gefängniswand bis zu den Köpfen der Schauspieler:innen, mal leuchten nur einzelne Stäbe wie ein ferner Horizont.
Die anfängliche Wut aus Büchners "Landbote" wandelt sich im Laufe des langen Abends zu Depression und Hoffnungslosigkeit, zu abgründiger Leere und Langeweile, wie sie trotz vordergründiger Komik auch in "Leonce und Lena" steckt.
Das passt, schließlich hat Büchner dieses vermeintliche Lustspiel, das das Genre der Komödie böse verspottet, erst später, im Straßburger Exil geschrieben. Dort hatte er den Glauben an die Revolution längst verloren. Die Lustspiel-Maske reißt Rasche dem Stück jedenfalls radikal herunter. Die Müßiggänger Prinz Leonce und Prinzessin Lena, die sich versehentlich ineinander verlieben, obwohl sie einander längst versprochen sind, versinken hier in ihren Depressionen.
Der Mensch ist nichts als ein Rädchen im Getriebe
Die Schauspieler:innen gehen und sprechen rhythmisch, mit tränenerstickter, zitternder Stimme – alles an diesem Abend trieft vor Pathos, setzt, wie immer bei Rasche, auf Lautstärke, auf Überwältigung. Der Mensch ist nichts als ein Rädchen im Getriebe. Ein Korn, das zermahlen wird in der erbarmungslosen Lebensmühle. Die Liebe vermag in dieser abgründigen Abrechnung niemanden mehr zu retten. Für seine düstere Depressionssuada zitiert Rasche auch aus Büchners Briefen: "Ein dumpfes Brüten hat sich meiner bemeistert, indem mir kaum ein Gedanke noch hell wird."
Tiefschwarze Weltsicht
Nachdem er am Deutschen Theater mit Sarah Kane schon in ein gnadenloses Schmerzgefängnis geführt und mit Sophokles "Ödipus" eine existenzielle Machtstudie inszeniert hat, führt Rasche diesmal den Zerfall des politisch widerständigen Menschen vor.
Der Revolutionsaufruf vom Beginn löst sich auf in einer Gesellschaft der Sinnlosigkeit, der Langeweile und des Narzissmus, ohne Hoffnung auf Erlösung. Diese tiefschwarze Weltsicht sei dem Regisseur gestattet. Von "Leonce und Lena" bleiben jedoch nur zusammenhanglose Versatzstücke übrig, die wie Fremdkörper in der Inszenierung stehen. Ohne klare Figuren, Geschichte, Zusammenhang tritt der Abend trotz kreiselnder Drehbühne auf der Stelle, steht rastlos still. Bei aller Überwältigungsästhetik eine sehr zähe und angestrengte Apokalypse.
Sendung: rbb kultur, 21.01.23, 07:45 Uhr