Theaterkritik | Autor:innentheatertage am Deutschen Theater - "Die zerteilen uns hier wie ein Stück Brot"
Das Hamburger Thalia Theater zeigt in Berlin die Uraufführung von Sasha Marianna Salzmanns gewaltigem Gegenwartsroman "Im Menschen muss alles herrlich sein". Eine gefühlvolle, aber letztlich zu harmlose Bühnenadaption. Von Barbara Behrendt
2017. Lena will ihren 50. Geburtstag in Jena feiern. Doch erst muss sie ihren Vater aus dem Donbass evakuieren, der seine Heimat nicht verlassen will, aus Angst, sie nie wieder zu sehen. "Die zerteilen uns hier wie ein Stück Brot", ruft er ins Telefon. "Da steht kein Haus, keine Straße mehr, niemand kann da je wieder zurück." Und Lena versucht zu beruhigen: "Irgendwann wird es gehen. Wenn das alles vorbei ist."
Wenn das alles vorbei ist – es klingt heute noch absurder als beim Erscheinen des Romans 2021, vor der russischen Komplett-Invasion. Es sind diese ersten Szenen auf der Bühne, die ins Bewusstsein rufen, wie gegenwärtig diese Migrationsgeschichte von vier Frauen in zwei Generationen ist, die Sasha Marianna Salzmann bis zurück in die 1970er Jahre erzählt, als Lena in der ukrainischen Provinz aufwächst. In den 1990er Jahren wandert sie mit ihrem jüdischen Mann nach Jena aus und wird von der erfolgreichen Privatärztin zur Krankenschwester degradiert.
Edi soll über "ihre Leute" schreiben
Im Roman ist Lena die Hauptfigur, auf der Bühne ist es ihre Tochter Edi. Edi, die aus Jena nach Berlin entflohen ist, weg von den "Perestroika-Psychopathen" und "diktaturgeschädigten Jammerlappen". In Berlin scheitert sie gerade als angehende Journalistin, weil ihre Zeitung möchte, dass sie über "ihre Leute" schreibt: "Meine Leute? Das sind in ihren Augen: Kontingentflüchtlinge, Nachzügler, Frühaussiedler, Spätaussiedler, Totalaussiedler, Wolga-Deutsche, Russland-Deutsche, Juden mit Davidstern um den Hals, Juden mit Jesuskreuz um den Hals, armenische Juden, tscherkessische Juden, Kasachen-Juden mit jüdischen Haustieren..."
Über ihre Vergangenheit weiß sie so gut wie nichts. Denn die Mütter erzählen nichts vom Drill, der lebensvernichtenden Stagnation, die sie erlebt haben. Als Edi sich mit der besten Freundin ihrer Mutter zur Geburtstagsfeier nach Jena aufmacht, sagt die ihr: "Von der Vergangenheit besessen zu sein ist nicht gut." Und Edi erwidert: "Aber eine zu haben wäre schön."
Eine Nähe, die so nicht existiert
Auf der Bühne fängt die eigentlich so stumme Lena an, mit ihrer Tochter zu sprechen – denn irgendwie muss das Publikum ja ihre Geschichte erfahren. Von den Absurditäten des Pionierlagers. Von der korrupten Ärztin, die ihre Mutter mit überteuerten Medikamenten in den Tod und die Familie in den Ruin getrieben hat. Von dem Verlust der Heimat und dem Zähnezusammenbeißen in der Fremde. Durch diese Interaktion wirken sich Mutter und Tochter näher als sie eigentlich sind. Im Roman wird Lenas Geschichte schlicht von einem Erzähler geschildert.
Die Schauspielerinnen stehen an der Rampe oder sitzen auf aufeinandergestapelten Sitzmöbeln am Bühnenrand, unbehaust, heimatlos. Auf der anderen Seite eine Musikerin, die den Abend mit melancholischen Xylophon- und Synthie-Klängen unterlegt.
Heitere Momente
Dem Regisseur Hakan Savaş Mican gelingen dabei, wie immer, anrührende, heitere, warmherzige Momente, etwa, wenn alle gemeinsam das Kennenlernen zwischen Lena und ihrem Mann Daniel erzählen und den Lambada-Song mitpfeifen.
Doch genau dieses Versöhnliche wird der Inszenierung insgesamt zum Hindernis. Denn die Brutalität, die emotionale Kälte, die in Salzmanns gewaltigem, ernüchterndem Roman liegt, wird hier ausgelassen oder allzu sentimental weggebügelt. Das macht den Abend zwar leicht verdaulich – weshalb Edi, und mit ihr eine ganze Generation, ihr Leben innerhalb dieser Familiendynamik nicht auf die Reihe kriegt, bleibt bei dieser Schonkost allerdings ein Rätsel.
Sendung: rbb24 Inforadio, 03.05.2023, 06.00 Uhr