Robert Seethaler | Lesung aus neuem Roman "Das Café ohne Namen" - "Für mich ist jeder Mensch gleich betrachtenswert"
Mit Büchern wie "Der Trafikant" "Ein ganzes Leben" oder "Das Feld" wurde Robert Seethaler international bekannt. Am Sonntag stellte der österreichische Schriftsteller seinen neuen Roman "Das Café ohne Namen" in Berlin vor. Von Marie Kaiser
Wenn Robert Seethaler ein neues Buch veröffentlicht, ist die Freude bei sehr vielen sehr groß. Und so ist der Große Sendesaal des rbb an diesem Sonntagabend ausverkauft. Mehr als 1.000 Gäste begrüßen Robert Seethaler mit ausdauerndem Applaus und sogar Vorschuss-Jubel. Der Österreicher kommt ganz entspannt in Jeans, Pulli und schwarzer Jacke auf die Bühne und reagiert auf die stürmische Begrüßung eher nachdenklich.
"Man muss das erst mal aushalten", sagt Seethaler. "Über 1.000 Menschen, so viele Leute, gehen in Österreich zum Fußballspiel. Das kann auch schon mal zu viel sein. Aber dieser Zustrom, diese warmen Wellen, die einem da entgegenkommen, die sind wunderschön und mich rührt das sehr. Andererseits ist für mich der Erfolg auch etwas Abstraktes. Ich kenne all die Menschen gar nicht, die meine Bücher lesen."
Heranfühlen statt Einfühlen
Im neuen Roman "Das Café ohne Namen" erzählt Seethaler den vielen unbekannten Leserinnen und Lesern die Geschichte eines Cafés in Wien in der Zeit von 1966-1977. Der Wirt trägt den schönen Namen Robert Simon, also wirklich rein zufällig Robert Seethalers Namen und die Initalen R.S., wie der Schriftsteller Radioeins-Moderator Thomas Böhm versichert. Beim Schreiben gehe es ihm weniger ums Denken und Planen. Manchmal könne er sich selbst nicht erklären, wie Geschichten zu ihm kommen. "Ich möchte, dass meine Figuren, so gut ich sie auch kenne und so nahe ich ihnen auch stehe, gesichtslos bleiben. Erst dann kann ich sie mit mit Charakter und Wesenszügen erfüllen. Doch das passiert eher intuitiv. Es gibt immer die Leute, die sagen, ich möchte mich in meine Figuren einfühlen. Ja, das ist ein hehrer Wunsch, aber in Wahrheit geht das ja nicht. Man kann sich höchstens an jemanden heranfühlen."
"Ich trage meine Herkunft im Herzen"
Seethaler lässt sich Zeit mit seinen Antworten, wählt seine Worte mit Bedacht, nimmt es ganz genau. Und dann bringt er doch ganzen Sendesaal immer wieder im Handumdrehen zum Lachen. In "Das Café ohne Namen" kehrt Robert Seethaler zurück nach Wien, also in die Stadt, in der er geboren wurde und aufgewachsen ist. Er wollte in seinem Schreiben "fragend zurückschauen".
Der Roman beginnt in Seethalers Geburtsjahr 1966 und spielt im Wiener Karmeliterviertel, das ihm viel bedeutet. "Ich habe ganz besondere Erinnerungen an das Karmeliterviertel, weil da meine Großeltern und meine Eltern her sind. Die Großeltern sind damals nach dem Krieg als Vertriebene aus Böhmen da angekommen. Großmutter hat als Tellerwäscherin in einer Großküche gearbeitet, der Großvater als Asphaltierer an der Straße. Mein Vater war Schlosser, die Mutter Sekretärin. Das ist das, wo ich herkomme. Auch ich trage diese Herkunft immer noch in meinem Herzen."
"Die einfachen Menschen - was soll das sein?"
Das "Café ohne Namen" im Karmeliterviertel wird zu einem "Ort der verlorenen Seelen", wie Robert Seethaler es ausdrückt. Dort begegnen sich der Fleischermeister, die Milch- und Käsehändlerin oder die junge Bauerntochter, die verzweifelt nach Arbeit in der Stadt sucht. Oft wird über Seethalers Romane gesagt, er schreibe über die "einfachen Menschen" oder die "kleinen Leute". Beides sind Formulierungen, die der Schriftsteller als abwertend empfindet, wie er an diesem Abend deutlich macht: "Die einfachen Menschen. Ich frage mich immer, was soll denn das sein? Was unterscheidet auf der Toilette King Charles von einem Straßenarbeiter? Nichts. Ich habe diese Unterschiedlichkeit nie begriffen. Für mich ist jeder Mensch gleich betrachtenswert."
Bevor Robert Seethaler zum Erfolgsschriftsteller wurde, dessen Romane in über 40 Sprachen übersetzt werden, hat er lange als Schauspieler gearbeitet. So ist es eine reine Freude im Großen Sendesaal mitzuerleben, wie er die unterschiedlichen Figuren seines Romans lesend zum Leben erweckt. Die zwei älteren Damen beispielsweise, die oft ins "Café ohne Namen" kommen, um den eigenen Verfall zu beklagen und wie zwei Vögel wild um sich picken mit ihren bissigen Kommentaren zu den anderen Cafégästen.
"Es gibt diese Orte der verlorenen Seelen"
Auf die Frage, ob er auch den Eindruck habe, dass es heute immer weniger Orte wie "Das Café ohne Namen" gebe, an denen Seelen, die kurz davor sind ins Nichts abzustürzen, aufgefangen werden, reagiert Seethaler sehr emotional. "Darin steckt nichts Romantisierendes. Es gibt diese Orte der verlorenen Seelen heute genau wie damals", betont Seethaler, der seit 20 Jahren in Berlin lebt, und nutzt die Gelegenheit, den gesamten Sendesaal noch einmal zum Lachen zu bringen mit einer Geschichte die diesen gesellschaftlichen Zusammenhalt, den er wahrnimmt, wunderbar illustriert.
Auf seiner U-Bahnfahrt aus Kreuzberg zum Großen Sendesaal habe er folgende Szene beobachtet. "Da hat ein junger arabischer Herr mit einem Kampfhund eine alte Dame die Treppen hochgetragen. Nicht geschoben - getragen. Er hat gesagt: Mütterchen, komm her. Und der Hund ist hinterher getrappelt."
Sendung: rbb24 Inforadio, 08.05.2023, 6:55 Uhr