Anne Rabe über "Die Möglichkeit von Glück" - "Ich hatte das Gefühl, dass dieser Osten brutaler und gewalttätiger ist"
Anne Rabe ist ein Kind der Wende - und hat es mit ihrem Roman "Die Möglichkeit von Glück" auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Im Interview spricht sie über Langfristfolgen eines autoritären Systems, ein zentrales Thema ihres Buches.
rbb: Frau Rabe, "Die Möglichkeit von Glück" erzählt die Geschichte von Stine, die in der DDR geboren ist und im wiedervereinigten Deutschland aufwächst. Darin geht es auch um die langfristigen Folgen eines totalitären Systems. Was war der Auslöser, dieses Buch zu schreiben?
Anne Rabe: Das war tatsächlich das Nachdenken über die politischen Verhältnisse. 2019, als es schon mal politisch so ähnlich aussah wie jetzt, als die AfD drohte, einen ostdeutschen Ministerpräsidenten zu stellen oder zur stärksten Kraft zu werden - das war der Moment, wo ich mich gefragt habe, warum mir das eigentlich so vertraut und so zwangsläufig vorkommt. Und andererseits auch die Frage, warum das so ist. Warum ändert sich da nichts in diesem Osten? Und ich habe mir darüber Gedanken gemacht, wie ich aufgewachsen bin. Ich habe begonnen mit Freunden darüber zu sprechen, was uns bewegt hat. Und dann habe ich irgendwann ein Buch daraus gemacht.
Sie sind 1986 in Wismar geboren, ein Kind der Wende. Inwiefern hat Sie die DDR dennoch geprägt?
Leute, die wie ich in den 80er Jahren geboren wurden, waren Kleinkinder in einem vorpolitischen Zustand. Wo man noch keine wirkliche Funktion in diesen Institutionen hatte, aber damit schon in Kontakt gekommen war. Und gleichzeitig war man in diesem ganzen Wende-Prozess jemand, der gar nicht ernst genommen wurde oder dem das nicht erklärt wurde. Weil man eben viel zu jung war und die Erwachsenen nicht dachten, dass Kinder das irgendwie verstehen könnten. Aber natürlich war dieser Systemwechsel permanent präsent, allein dadurch, dass man immer von "zu Ostzeiten" und "zu Westzeiten" sprach. Das sind alles so Sachen, wo klar war, es gab hier eine Veränderung. Und es hat mich insofern geprägt, als dass es einerseits diese Leerstelle gab. Und andererseits aber auch diese Umbruchszeit mit all ihren Härten, die die Kindheit beeinflusst hat. Die Erwachsenen hatten zudem wenig Kapazitäten, um zu erklären oder zu begleiten. Ich würde sagen, dass das für Kinder eine sehr einsame Kindheit war.
In Ihrem Roman spielen autoritäre Strukturen und Gewalt - physiche, psychische und strukturelle - eine Rolle. Warum?
Das kam in den Gesprächen mit Freunden von mir oder auch mit anderen Zeitzeugen schnell zur Sprache: Diese immense Gewalt untereinander, wie hart wir miteinander waren, wie brutal. Diese Neonazis-Szene ist natürlich unglaublich präsent gewesen in dieser Zeit. Aber es gab sehr viel mehr. Zum Beispiel dieses Mobbing in der Schule, was sehr ausgeprägt war. Aber auch die Gewalt in den Familien. Und zwar unabhängig davon, ob die Eltern systemtreu waren, ob es Oppositions-Familien waren oder Dissidenten-Familien. Das tauchte immer wieder auf und dem bin ich nachgegangen. Weil ich sowieso das Gefühl hatte, dass dieser Osten brutaler und gewalttätiger ist. Man sieht das auch in politischen Demonstrationen. Ich kann mir schwer vorstellen, dass diese Gewalt nur auf der Straße entsteht. Das steckt auch schon in den Familien und hat dort eine lange Tradition.
Wie spiegelt sich das Thema erzählerisch wider?
Es geht im Kern darum, wie diese politische Gewalt des 20. Jahrhunderts und dieser DDR in die Familien eindringt, auch in die Beziehung, in die Freundschaften. Wie sie das kaputt macht und dominiert. Und es geht auch um die Frage, wie man diesen Kreislauf, dieses Weitergeben von Gewalt, diese neue Form von Gewalt, findet, sie unterbricht und wie man damit umgeht. Es ist auch eine Emanzipationsgeschichte von dieser Gewalt. Was ich erzählen möchte, ist, wie lange diese Gewalt nachwirkt, wie mächtig sie ist. Und wie mächtig das Schweigen darüber ist, wenn man nicht beginnt, darüber zu reden und dem was entgegenzusetzen.
Was lief denn im Osten anders als in Westdeutschland?
Gewalt gibt es auch in Westdeutschland, ich glaube aber - in einer anderen Systematik. Und das hat ganz viel damit zu tun, dass Ostdeutschland eben sehr viel länger von Diktatur und Autoritarismus geprägt war, dass es ein langes Schweigen gibt und Traditionen. Diese enorme Gewalt des 20. Jahrhunderts, die schon im Ersten Weltkrieg stattfand, die dann im Zweiten Weltkrieg mündete, in einem absoluten Inferno, die wurde noch weiter beschwiegen, viel länger. Das liegt daran, dass es so etwas wie ein 1968, ein Infragestellen der Taten der Eltern im Nationalsozialismus oder im Krieg überhaupt nicht gab. Alle autoritären Systeme neigen dazu, Vergangenheitsbewältigung und Aufarbeitung nicht zuzulassen.
Was wollten Sie über Ihre Generation von Ostdeutschen erzählen?
Es ist eine sehr spezifische Geschichte über eine spezielle Familie, eben eine parteitreue Familie. Es war mir wichtig, einmal so eine Geschichte zu erzählen, weil ich das Gefühl habe, dass darüber noch gar nicht so viel gesprochen wurde. Insofern würde ich nicht sagen, dass es ein Buch über eine ganze Generation ist. Aber die Figuren, die dort auftauchen, haben alle diese Gewalterfahrung gemeinsam, auch im Umgang miteinander. Das wollte ich erzählen. Die Alltäglichkeit von Gewalt, die sich fortsetzt. Und auch die Einsamkeit dieser Generation. Wie es ist mit dieser Leerstelle der Geschichte aufzuwachsen. Mit Erwachsenen, die nicht verfügbar waren. Und ich glaube auch, dass das eine Generation ist, die nicht geliebt wurde. Einfach weil sie in die Agonie der DDR hineingeboren wurde. Viele der Eltern waren sehr jung. Und dann kommt dieser Bruch '89 und das hat zu Spannungen geführt. Denn jeder, der damals kleine Kinder hatte, hatte viel größere Probleme als jemand, der alleine losgehen kann in die Welt. Ich glaube, da ist ganz, ganz viel beschwiegen zwischen dieser Kindergeneration und der Elterngeneration. Es fällt vielen in meiner Generation sehr schwer, dort in den Konflikt zu gehen.
Was hat Ihnen das Schreiben dieses Buches persönlich abverlangt?
Ich bin mit einem recht positiven DDR-Bild aufgewachsen und habe irgendwann feststellen müssen, dass das ein Thema ist, mit dem ich mich schon sehr lange beschäftige: was für ein abgrundtief böser Staat das war, was für abgrundtief grausame Dinge dort geschehen sind, im Jugendwerkhof zum Beispiel. Diese Umorientierung, die meine Hauptfigur Stine macht, ist natürlich sehr schmerzvoll. Wenn man das Gefühl hat, dass es da eine ganz große Lüge gab und ich habe an etwas ganz Falsches geglaubt. Oder wenn man sich fragt, wie die Lehrer, die Erzieher, die Eltern sich in diesem System bewegt und das auch mitgetragen haben.
Wir schauen aktuell auf ein Deutschland, das sich immer mehr spaltet, stark nach rechts rutscht. Was ist Ihre Erklärung dafür?
Ich glaube, die Gründe dafür sind vielschichtig. Ein wichtiger Grund ist, dass man völlig unterschätzt, dass Gesellschaften kippen können. Es ist nicht überall in Ostdeutschland gleich. Aber wenn es in Orten 30, 40 Prozent AfD-Wähler gibt, dann ändert dies das ganze Klima. Die Selbstverständlichkeit, die Normalisierung von Rechtsextremismus, die ist in Ostdeutschland weit fortgeschritten. Das ist ein Riesenproblem. Ich glaube, man muss wirklich anerkennen, dass das nichts ist, was man innerhalb von einer Wahlperiode oder mit einem weiteren Wahlsieg der demokratischen Parteien beenden kann. Ich glaube schon, dass eine Ursache dafür tatsächlich eine lange autoritäre Prägung ist. Man sieht in den Umfragen, dass zum Beispiel der Wunsch nach autoritären Staatsformen viel größer ist in Ostdeutschland. Dass die eigene Geschichte nicht reflektiert, einfach nicht aufgearbeitet ist. Man sieht auch diese fortwährende Gewalt auf den Straßen. Und das führt dazu, dass sich dort Dinge verhärten, Gegenkräfte sich zurückziehen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ich war kürzlich in Bautzen, da gibt es diese B96, wo immer die Nazis mit ihren Reichskriegsflaggen und so stehen. Und da gibt es eine Gruppe, die dann eben mit Regenbogenfahnen dastehen. Und in Bautzen können die nicht eben mal öffentlich dazu aufrufen, zu diesen Demonstrationen zu kommen, weil sie Angst davor haben überfallen oder registriert und dann gegängelt zu werden. Das sind Zustände, die sind den meisten Menschen sowohl in Westdeutschland als auch in Berlin vollkommen fremd. Dass man eben nicht mehr einfach sagen kann: Kommt, morgen demonstrieren wir für unsere Rechte oder Gleichberechtigung. Da sind die Gesellschaften gekippt.
Wie kann man die Aufarbeitung der DDR-Zeit, wie Sie sie hier anmahnen, besser vorantreiben?
Ich glaube, dass man die Situation im Osten im gesamten Deutschland anerkennen muss. Das ist nicht nur eine ostdeutsche Geschichte. Wir sind ein Land und das ist unsere Geschichte. Diese Frage der Integration des Ostens stellt sich eigentlich gar nicht. Wir sind ein gemeinsames Deutschland und das, was in Ostdeutschland passiert, das hat eben auch Auswirkungen auf das ganze Land. Es müsste noch mehr Interesse geben, auch von westdeutscher Seite.
Und im Osten, insgesamt im Land, muss dringend sehr viel Arbeit und sehr viel Geld in politische Bildung gesteckt werden. Mir passiert immer wieder, dass Leute noch nie vom Jugendwerkhof oder noch nie von Torgau gehört haben. Ich finde, das sind Vorgänge, Begriffe, Orte, von denen jeder Mensch in Deutschland wissen sollte. Da müssen wir auch den Opfern gerecht werden. Das ist einfach unsere Aufgabe als Gesellschaft.
Vielen Dank für das Gespräch.
Mit Anne Rabe sprach Charlotte Pollex, rbbkultur.
Sendung: rbbKultur - das Magazin, 16.09.2023, 18:30 Uhr