Theaterkritik | von Schirachs "Regen" an Berliner Philharmonie - Darf man hier rauchen?
Über zehn Millionen Bücher hat Ferdinand von Schirach weltweit verkauft. Zuletzt erschien "Regen". Den bringt er als One-Man-Show selbst auf die Bühne - ist das Größenwahn? Corinne Orlowski hat ihr Urteil nach der Uraufführung revidiert.
Ein namenloser Mann kommt vom Regen durchnässt in eine Bar, bestellt einen Drink und hebt an zu einem Monolog. "Mögen Sie Regen?" Ferdinand von Schirach aber ist trocken, trägt einen edlen schwarzen Anzug mit Fliege und Kummerbund, dazu Lackschuhe. Er betritt die leere Bühne. Da steht nur ein Holzstuhl mit Beistelltisch, darauf eine Tasse Espresso und ein Glas Eiswasser mit Minze. "Wissen Sie, ob man hier rauchen darf?" Darf man. Er zündet sich tatsächlich in der Berliner Philharmonie eine Zigarette an, nein, gleich mehrere.
Dieser Mann rührt einen
Der große Saal ist ausverkauft, über eintausend Menschen und man kann eine Stecknadel fallen hören. Was soll man sagen, dieser Abend ist eine Überraschung. Ferdinand von Schirach – vom Berliner Strafverteidiger zum Schriftsteller mit insgesamt über zehn Millionen verkauften Büchern und jetzt auch noch Schauspieler? Ist das Größenwahn? Er sagt, es sei die Freude am Spiel, die ihn bewegt habe, auf die Bühne zu gehen. Aber kann das gut gehen? Das Urteil ist im Kopf schon fast gefällt. Aber dieser Mann nimmt seine Sache hier ernst, und obwohl er irgendwie sich selbst spielt, schafft er es, dass man an seinen Lippen hängt und sich fragt, warum eigentlich? Warum spricht er?
"Niemand kann sich selbst seine Schuld erlassen."
Dieser Mensch rührt einen, so elegant und zerbrechlich tigert er über die Bühne, linke Hand in der Hosentasche. Zurückhaltend spielt er einen Schriftsteller mit Schreibblockade, der zum Schöffen berufen wird, also als Laienrichter helfen soll, Urteile zu fällen. Folgender Fall liegt vor: Ein junges Ehepaar, sie streiten sich. Das Thema: Eifersucht. Er sagt zu ihr, sie sei eine Hure. Sie sagt zu ihm, er habe einen zu kleinen Penis. Die Sache eskaliert. Am Ende sticht er ihr ein Messer in den Hals, sie verblutet auf offener Straße. Der Mann wird festgenommen, gesteht, kommt ins Gefängnis, wird angeklagt und jetzt, sechs Monate nach der Tat, wird über seinen Fall verhandelt. Er, der Schriftsteller und Schöffe, soll also über diese Tat und diesen Mann urteilen.
"Sehen Sie, wir können jedem vergeben. Unseren Eltern, unseren Kindern, unseren Freunden und selbst unseren Feinden. Nur uns selbst können wir nicht vergeben, das ist nicht möglich. Niemand kann sich selbst seine Schuld erlassen, das kann nur der Gläubiger tun. Ihre eigene Schuld verjährt nicht. Damit müssen Sie leben. Oder eben auch nicht."
Keine neuen Themen – nur der Regen ist neu
Der Fall lässt den Schriftsteller über Liebe und Tod, Schuld und Würde nachdenken, über den Zauber der Literatur und darüber, dass es eigentlich unmöglich ist, neutral über einen Menschen zu urteilen. Soweit keine neuen Themen für den Bestsellerautor von Schirach. – Nur der Regen ist neu und selbst der steht nicht im Mittelpunkt. Er setzt nur die melancholische Stimmung. Von Hemingway, den er liebt, geht es zur Geburt der Aphrodite - uh, wie eklig - zum Hormonaushalt der Präriemaus - erstaunlich - und zum Urlaub am Strand, den er hasst.
"Diese Fische tun alles im Meer. Wo denn sonst? Es sind Fische! Sie gehen im Meer aufs Klo, sie haben im Meer Sex, sie bekommen im Meer ihre Kinder, sie werden krank und sterben und verfaulen und verwesen – im Meer. Und dann schwimmen die Leute darin und haben das auf der Haut und in den Haaren und im Mund und finden es auch noch amüsant."
Ja, Draußen ist es ja nur von Drinnen schön. Am Ende bleiben wir fremd in dieser Welt, bis zum Schluss, und wartet ja doch nur der Tod.
Auf der Bühne findet der Text seine Bestimmung
Das misanthropische Buch "Regen. Eine Liebeserklärung" erschien im August 2023. Knapp zwei Wochen nach der Veröffentlichung stand es auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste (aktuell Platz 2), und das obwohl der Text nur etwa 50 Seiten lang ist und um ein SZ-Interview auf 112 Seiten aufgeblasen wurde. Mit einem Theatermonolog die wichtigste Bestsellerliste anführen? Das gab es noch nie. Die Leute lieben ihn einfach. Seine Bücher wurden vielfach verfilmt und in 40 Sprachen übersetzt. Der Daily Telegraph in London schrieb, von Schirach sei "eine der markantesten Stimmen der europäischen Literatur". Doch von der Kritik wurde "Regen" eher gemischt bis schlecht aufgenommen. Hier auf der Bühne findet der Text aber seine Bestimmung. Auf einmal ist da feingeistige Komik. Es gibt immer wieder Szenenapplaus und Jubel zum Schluss. Da muss selbst der ernste Ferdinand von Schirach mal lächeln. Nur die Standing Ovations scheinen ihn dann doch zu verschrecken. Schnell huscht er von der Bühne.
Und was lernt man aus dieser überraschend guten Performance? Urteile nicht zu früh, ertrage die Ambivalenz von Menschen und sei dir deiner Befangenheit bewusst.
Sendung: rbb24 Inforadio, 11.10.2023, 7:55 Uhr