Frühkritik | Selig im Huxleys - Vielleicht ist die Welt noch zu retten
Mitte der 90er Jahre gehörte Selig zu den relevantesten deutschen Bands und spielte auf den größten Festivals - inzwischen feiert sie ihr 30-jähriges Jubiläum. Bei ihrem Konzert in Berlin wurden am Dienstag Erinnerungen wach. Von Magdalena Bienert
Mit 14 Jahren habe ich diese Band verehrt, wie kaum eine andere je wieder. Die tiefen wütend-traurigen Texte, die sich nicht immer gleich erschließenden Bilder sowie die Wucht und Intensität der Musik trafen mitten in mein Teenagerherz.
Die ersten beiden Alben "Selig" und "Hier" liefen bei mir jahrelang rauf und runter. Am Dienstag stelle ich mir vor dem Wiedersehen mit meiner Jugend die Frage: Das mysteriöse "Sie hat geschrien", das arrogante "Wenn ich wollte" und das tragische "Bruderlos" - funktioniert das auch nach 30 Jahren noch?
Dienstags-Messe im Huxleys
Kurze Antwort: Ja. Selig hatte eine Bandpause, die Mitglieder versuchten sich an mittelguten Soloprojekten, kamen danach aber wieder zusammen. Aber 30 Jahre nach ihrer Gründung treffen sie immer noch ins Herz - und ich bin darüber unfassbar erleichtert.
Der Sänger Jan Plewka tänzelt in seinem unnachahmlichen Stil barfuß über die Bühne des Huxleys. Der 53-Jährige trägt schwarze, schmale Jogginghosen, ein schwarzes T-Shirt, ist drahtig wie immer, aber noch mehr zum Guru geworden: Zu fantastischer Lichtstimmung breitet er immer wieder seine Arme aus, um seine seligen Schäfchen zu begrüßen und auf diese Reise mitzunehmen. Ob wir Zeit hätten, fragt er. Was für eine Frage?
Es geht tief zurück in die 90er Jahre und das fühlt sich immer noch gut an. Vielleicht, weil man weiß: Den allerallerschlimmsten Liebeskummer hatte man schon. Es tut nicht mehr weh, lauthals Textzeilen der Selig-Ballade schlechthin mitzusingen: "Es kommt so anders als man denkt, Herz vergeben, Herz verschenkt… es ist so…oh- ohne dich. Es so widerlich, ich will das nicht, denkst du vielleicht auch mal an mich?" ("Ohne Dich")
Wo bleibt der Weihrauch?
Die Band Selig ist statt zu fünft nur noch zu viert. Doch spürt man in jeder Minute ihre tiefe Verbundenheit und die Spielfreude. Immer wieder verlieren sich Songs in ausufernden Instrumentalparts, was vor allem dem nach wie vor herausragendem Gitarrenspiel von Christian Neander zu verdanken ist.
Refrains werden bis zur Trance vom Publikum mitgesungen. Das ist inzwischen jenseits der 40, eher Ü50 wie die Musiker, und verbindet mit dieser Band eine ganz besondere Zeit. Es trägt viele Textzeilen für immer im Herzen, die sich offensichtlich jederzeit abrufen lassen, wenn der heilige Plewka dazu auffordert. Warum riecht es im Huxleys eigentlich nicht nach Weihrauch? Das würde auch ganz wunderbar zum schummrig-schönen Licht und der leicht entrückten Stimmung passen.
Nur Mut
Die Hamburger Band hatte sich nach ihrem kometenhaften Aufstieg 1999 nach nur sechs Jahren wieder aufgelöst. Als sie zehn Jahre später wieder zusammenfand, entstand unter anderem "Schau Schau". Auch so ein Lied, dessen Hook über Minuten mitgesungen werden kann und an dessen Ende Plewka mit seiner brüchigen Stimme sagt: "Alles wird gut".
Man möchte es nur zu gern glauben. Aber wieso eigentlich möchte? Warum zweifeln, an diesem Abend mit dieser immer noch so guten Band? Mit den Worten: "Selig ist ein Zustand und die Welt ist nur durch die Seele zu retten - ihr seid selig", verabschiedet sich der Sänger nach zwei Stunden.
Übrigens wäre da noch ein bisschen Platz im Huxleys gewesen, was wirklich schade ist. Genauso schade, wie, dass sich der tief verbundene Zustand nach dieser intensiven Konzertreise nicht vervielfältigen und auf andere übertragen lässt. Das wäre doch mal was.
Sendung: rbb24 Inforadio, 01.11.2023, 9 Uhr