rbb-Recherche - Große Berliner Bühnen haben zu wenig gute Rollstuhl-Plätze
Bei großen Berliner Bühnen und Konzerthäuser hakt es bei der Inklusion, trotz staatlicher Förderung. Das belegt eine Recherche des rbb. So gibt es weniger Plätze für Menschen mit Rollstuhl als angepeilt - und diese Plätze liegen oft im Abseits. Von Tomas Fitzel und Lukas Haas
Henny Schmidt-Burkhardt liebt das Theater und die klassische Musik. Doch leider sind Konzert- und Theaterbesuche in Berlin für sie oft schwierig, denn viele Kulturstätten sind nicht für die 60-Jährige und ihren Rollstuhl gemacht. So kann sie beispielsweise den Eingang zur Philharmonie ohne Hilfe kaum passieren: Die Schwingtüren sind schwer und lassen sich nicht automatisch öffnen. Doch viel mehr stört Henny Schmidt-Burkhardt, dass sie die Konzerte in der Philharmonie nicht nah am Orchester verfolgen kann. "Ich würde gerne die Möglichkeit haben, vorne zu sitzen", sagt sie. "Und das habe ich nicht." Plätze für Menschen im Rollstuhl gibt es in der Philharmonie nur in der sogenannten Behinderten-Loge und diese liegt seitlich vom Orchester, direkt unterm Dach. Weder Sicht noch Akustik sind hier ideal.
Die Philharmonie ist nur eine von vielen Berliner Kulturinstitutionen, die nicht voll barrierefrei und inklusiv sind, wie eine rbb-Recherche zeigt. Es gibt zu wenig Plätze für Menschen mit Rollstuhl, die Platzwahl ist eingeschränkt und die Buchung oft besonders aufwändig.
Nur vier von elf Häuser bieten im größten Saal genug Plätze
Abgefragt wurden dafür elf große Theater- und Konzerthäuser, die vom Land Berlin jährlich mit deutlich mehr als zehn Millionen Euro gefördert werden. Erfragt wurden Details zu Plätzen für Menschen im Rollstuhl im jeweils größten Saal. Und schon bei der Anzahl der Rollstuhl-Plätze zeigen sich erste Probleme.
In Berlin müssen in Versammlungsstätten ab dem Baujahr 2005 mindestens ein Prozent der Plätze für Rollstuhlnutzerinnen und Nutzer vorbehalten sein. Für ältere Gebäude ist das zurzeit nicht rechtlich bindend. Behindertenvertreter und Fachleute sehen in der Ein-Prozent-Norm allerdings nur eine Mindestanforderung, die alle Bühnen bis heute eigentlich hätten schon erreichen sollen.
Stand jetzt nähern sich nur vier von elf der großen Berliner Bühnen und Konzerthäuser in ihrem größten Saal der Zielvorgabe. Das sind das Maxim-Gorki-Theater, die Schaubühne, die Staatsoper und die Volksbühne. Die übrigen Spielstätten bieten rechnerisch nur 0,66 Rollstuhlplätze pro 100 Zuschauerplätze. Vor allem in kleineren Kultureinrichtungen gelingt es offenbar besser, die Zielvorgabe einzuhalten.
Kaum Optionen bei der Platzwahl
Auch bei Platzwahl sind Menschen mit Behinderung eingeschränkt. Nur in zwei der elf geförderten Häuser haben Menschen im Rollstuhl überhaupt eine Auswahl-Option, wo sie im Saal sitzen können. So bieten nur die Staatsoper Rollstuhl-Plätze in vier verschiedenen Saal-Lagen an, die Deutsche Oper in zwei Platzgruppen. In neun der befragten Berliner Bühnen und Konzerthäusern haben Menschen im Rollstuhl aber keine Auswahl. Und in etlichen Fällen befinden sich die Rollstuhl-Plätze in Randlagen - wie der ersten oder letzten Reihe oder in gesonderten Logen weitab der Bühne.
Keine Online-Buchung möglich
Ein häufiges Ärgernis sind für Rollstuhlfahrer auch eingeschränkte Möglichkeiten bei der Buchung: Laut rbb-Abfrage ist in keinem Haus eine Online-Buchung von Rollstuhl-Plätzen möglich. In der Regel müssen Menschen im Rollstuhl den jeweiligen Kartenservice persönlich vorab telefonisch, per Mail oder an der Kasse kontaktieren – und vor dem Kauf von Tickets Ihre Berechtigung nachweisen. Als Grund wird in der Regel die Sorge davor genannt, dass Rollstuhl-Plätze durch Unberechtigte gebucht werden.
Für Behindertenvertreter offenbaren die Ergebnisse der rbb-Recherche einen unhaltbaren Zustand. "Das ist wirklich skandalös", sagt Gerlinde Bendzuck, Vorsitzende der Landesvereinigung Selbsthilfe Berlin, einem Dachverband von verschiedenen Betroffenen-Vereinigungen. "Dass noch nicht einmal ein Prozent der Plätze und eben nur in sehr inferioren Platzqualitäten für mich zugänglich sind, das ist überhaupt nicht zeitgemäß im Jahr 2024", sagt Bendzuck. Sie spricht von Diskriminierung.
Bendzuck moniert zudem, dass die Barrierefreiheit zurzeit keine Priorität genieße - das sei auch am Beispiel der Philharmonie zu sehen.
Konzept für Philharmonie seit sieben Jahren auf Halde
Nach rbb-Recherchen zeigt seit 2017 ein Konzept, wie die Berliner Philharmonie barrierefrei gemacht werden kann. Dieses hatte ein Architekturbüro im Auftrag der Berliner Immobilienmanagement GmbH (BIM), einem Tochterunternehmen des Landes Berlin, ausgearbeitet. Auf 200 Seiten wird detailliert aufgelistet, wo das Gebäude noch nicht barrierefrei ist und was konkret getan werden könnte. Schon damals stellten die Architekten fest, dass es mit acht Plätzen in der sogenannten "Behindertenloge" nicht genügend Plätze für Rollstuhlfahrer gebe. Stattdessen brauche es 24 Rollstuhl-Plätze über den Saal verteilt. Um die Zahl der Rollstuhl-Plätze auf 15 zu erhöhen, wären nur kleinere oder gar keine baulichen Eingriffe nötig.
Doch knapp sieben Jahre nach den Vorschlägen sind keine zusätzlichen Rollstuhl-Plätze in der Philharmonie entstanden.
Die Philharmonie räumt zwar ein, dass die Saalbestuhlung in ihrer Verantwortung liege, für die bauliche Umsetzung des Konzepts sei aber die BIM verantwortlich. Die BIM wiederum verweist zurück auf die Verantwortung der Philharmonie. "Das Konzept der Saalbestuhlung ist Nutzersache", schreibt die BIM auf Anfrage des rbb. Zum Konzept heißt es, dieses habe eigentlich 2018 in die Investitionsplanung des Berliner Haushalts aufgenommen werden sollen - wegen "diverser Projektkonkurrenzen" sei das aber nicht geschehen. Kurz: Andere Projekte wurden für wichtiger erachtet.
"Das ist eine Frage der Willensbildung"
Die Senatsverwaltung für Kultur sieht die federführende Verantwortung bei der BIM. Sie räumt zugleich ein, die Verbesserung beim barrierefreien Umbau in Kultureinrichtungen gestalte sich "leider nicht in dem Maße und der Geschwindigkeit, wie es wünschenswert wäre", wie ein Sprecher dem rbb mitteilte. Grund sei vor allem "die Komplexität der baulichen Maßnahmen (…) in den denkmalgeschützten Gebäuden".
Gerlinde Bendzuck als Vertreterin von Betroffenenverbänden vermisst politischen Druck der Senatsverwaltung bei der Barrierefreiheit. Sie sieht die Verantwortlichkeit vor allem beim Kultursenator und seiner Staatssekretärin. "Das ist eine Frage der Willensbildung", sagt sie. "Und ich sehe in Berlin eben noch nicht genug Willen zur kulturellen Teilhabe und zur kulturellen Inklusion."
Für Henny Schmidt-Burkhardt jedenfalls wird sich, wie es aussieht, so schnell nichts ändern, wenn sie die Berliner Philharmonie besuchen will. Sie wird wohl noch länger warten müssen, bis sie Konzerte dort von anderen Plätzen verfolgen kann. "Es ist typisch für viele Projekte", sagt sie. "Man redet, aber setzt nichts um. Was soll man dazu sagen? Das spricht eigentlich für sich."
Sendung: rbb24 Abendschau, 26.04.2024, 19:30 Uhr