Konzertkritik | Ty Segall in Berlin - So dreckig wie nur irgendwie möglich

Do 04.07.24 | 07:57 Uhr | Von Jakob Bauer
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Archivbild:Ty Segall bei einem Auftritt am 14.4.2018.(Quelle:imago images/ZUMA Press)
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Audio: rbb24 Inforadio | 04.07.2024 | Jakob Bauer | Bild: imago images/ZUMA Press

San Francisco hatte schon immer eine äußerst aktive Gitarrenmusik-Szene. Einer der umtriebigsten Musiker der letzten Jahre dort ist Ty Segall. Gestern spielte mit seiner Band im Festsaal Kreuzberg. Jakob Bauer war ziemlich weggeblasen.

Immer wenn man denkt: Es geht nicht noch fetter, der Sound kann jetzt nicht noch saftiger, wuchtiger und brutaler werden, schaltet irgendwer in der Band noch ein Fuzz-Verzerrer-Pedal an. Mit diesem Sound ist Ty Segall bekannt geworden. Mit, ganz salopp gesagt, Arschtritt-Musik, die einen vom langweiligen Stuhl in den Pogo reintritt. Ty Segall hat selbst mal gesagt, dass er es "so dreckig, wie nur irgendwie möglich" will. Und auch an diesem Abend im Berliner Festsaal Kreuzberg heißt es: Garagen-Rock-Eskalation, bis das Dach wegfliegt.

Machen keine Show. Machen Musik.

Dabei sind das da vorne auf der Bühne eigentlich fünf ziemlich normale Typen. Maximal unspektakulär ist Ty Segall selbst. In Jeans und T-Shirt und mit seinen wuscheligen Haaren wirkt er mit 37 immer noch sehr jungenhaft und eigentlich ziemlich unschuldig. Die Band hat auch keine Allüren, ist eher im Halbkreis aufgestellt als rockstar-mäßig nach vorne orientiert. Man macht hier keine Show, man macht: gemeinsam Musik. Tiefe, drückende Power-Akkorde bilden häufig die Grundlage, darüber tirilieren die Solo-Gitarren, hohe, jaulende, fiepende, wimmernde Töne, die sich umspielen oder gemeinsam um die Wette heulen. Dazu ein schonungslos nach vorne peitschendes Schlagzeug und die Stimme von Ty Segall, die zwar auch gut reibeisig sein kann, aber eigentlich klassisch schön ist – hell, hoch, klar.

Komplexität hinter dem Wumms

Die Songs wechseln zwischen ultra-schnellen, punkigen Titeln und düster-langsamen, voluminösen Brechern. Wenn die Wucht-Nummern durch den Festsaal ballern, dann fliegen die Becher. Allerdings ist Ty Segall auch niemand, der sich auf seinen Lorbeeren ausruht. Seit 2008 hat er 15 Solo-Alben veröffentlicht, dazu ist er noch in vielen anderen Projekten aktiv. Was seine Musik dabei schon immer ausmachte, war, dass hinter der brachialen Oberfläche häufiger einfallsreiche und ambitioniertere Rhythmen und Songstrukturen stecken, als man das so auf's erste Hören denkt.

Und mittlerweile ist Segall auch schon lange weg vom reinen Garagen-Rock. Er hat in den letzten Jahren viele Genres in seiner Musik verarbeitet, Country, Psych-Rock und Folk zum Beispiel. Und ganz aktuell: Progressive Rock. All das baut die Band auch in dieses Konzert ein. Und das ist auch alles fein bis fantastisch, aber man merkt schon, dass die Menge danach lechzt, wieder von der nächsten Dampfwalze geplättet zu werden.

Der nächste Arschtritt kommt bestimmt

Manchmal allerdings fühlt man sich auch ein bisschen wie im Proberaum, wenn die Band in längere Jams verfällt und das Gegniedel auf den Gitarren zwar immer noch nett anzuhören ist, aber ein bisschen der Drive des Abends und die Aufmerksamkeit verloren geht. Aber das ist Kritik auf höchstem Niveau. Denn es ist ja immer klar: Der nächste – den ganzen Körper in euphorisch zitternde Vibration versetzende – Arschtritt, er kommt bestimmt.

Sendung: rbb24 Inforadio, 04.07.2024, 7:55 Uhr

Beitrag von Jakob Bauer

4 Kommentare

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  1. 4.

    Direkt der erste Song war nicht der Gassenhauer, den alle erwarten, sondern besser.. nämlich das, worauf die Band Bock hatte, was ihnen gefällt. Ich liebe, dass es direkt schräg & laut startete. Ja, irgendwie auch dreckig. Natürlich muss man das fuzzige Gezerre mögen, ich liebe es!

  2. 3.

    Hey, schön, noch eine andere Perspektive zu hören und ich weiß was du meinst. Ich hab ja auch darauf hingewiesen, dass er seine anderen, nicht so heftigen Sachen Raum gegeben hat an diesem Abend und dass man da auch durchaus eine Ungeduld im Publikum merkte. Nur ist es für mich noch kein lahmes Konzert, weil es nicht, wie noch vor einigen Jahren by Ty, durchgängig auf die Zwölf gibt. Ich hab ihn in dieser Phase 2015 gesehen und das war wahnsinnig cool, jetzt ists halt bisschen anders, ABER diesen fetten Sound, der gestern für mich trotzdem immer noch dominierte und in den auch fast alle neueren Stücke irgendwann reingekippt sind, den kenne ich von kaum jemand anderem, der fährt mir nirgendwo sonst so in die Knochen und deswegen ist es für mich Kritik auf hohem Niveau. Und wenn's immer wieder bisschen mehr laid back ist, knallt das Heftige noch mehr. Trotzdem bisschen viel Gehniedel, Dramaturgie nicht perfekt, schrieb ich ja auch, aber immer noch ohne Vergleich. LG

  3. 2.

    „Mit, ganz salopp gesagt, Arschtritt-Musik, die einen vom langweiligen Stuhl in den Pogo reintritt“ Zitat vom Artikel, ist für mich alles gesagt.
    „Den Finger rein“ wollen die Fans hören, was für eine sprachliche Songkultur für die Jugend.
    Wenn Songs gewollt anders verstanden werden sollten, dann kann man mir gerne (Sorry) einen Ar..htritt geben und mich eine Kulturbanause nennen.


  4. 1.

    Ui. So eine euphorische Kritik zu so einem lahmen Konzert. Das Empfinden von Musik ist natürlich vor allem Geschmackssache und sehr subjektiv, aber ein paar objektivierbare Punkte irritieren mich doch. Denn gerade punkige Songs und Dampfwalzen gab es an diesem Abend sehr wenig. Grob geschätzt 2 bis 4, je nach persönlicher Skaleneinteilung. Im Übrigen eine größtenteils ziemlich zurückgenommene Darbietung, sehr laid-back, ziemlich lahmes Tempo. Im Publikum wurde durchaus viel gequatscht, viele sind rauchen gegangen oder frühzeitig nach Hause. Ich hab mich über den Spaß, den die fünfminütige Crowdsurferin hatte, sehr gefreut, aber das war dann auch schon das Highlight des Konzerts. Nach Aussagen meiner Begleitungen hat nur der letzte Song der Zugabe an frühere Konzerte von Ty Segall erinnert. Das kann ich nicht beurteilen, weil ich ihn das erste Mal gesehen habe, aber es würde erklären, warum soviele Menschen den Weg zum Konzert gefunden haben.

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