Theaterkritik | "Die Entführung der Amygdala" - Das Patriarchat im Nervensystem
Kann man das eigene Gehirn, das eigene Leben auf Neustart stellen? Anna Gschnitzer versucht in ihrem neuen Stück an der Schaubühne mit der Amygdala, dem ältesten Teil unseres Gehirns, auch das Patriarchat auszuschalten. Von Barbara Behrendt
Ruth Rosenfeld schleppt ihren Körper über die Bühne der Berliner Schaubühne und zeichnet seine Umrisse dann mit weißer Kreide nach, wie bei einem Kriminalfall. Der Unfallhergang ist klar: Die Frau, die hier mit zerschmettertem Kopf am Boden liegt, ist aus Stress und Sorge um das kranke Kind, das sie aus der Kita abholen wollte, auf dem Fahrrad in einen SUV gedonnert.
Und jetzt meldet sich ihre Amygdala: "Komm, komm, setz dich in Bewegung und kratz deinen Körper vom Boden, du Breigesicht! Du musst zu ihnen! Ist dir das aus dem Hirn geknallt und auf die Motorhaube gebounct, dass du Mutter bist?"
Die Amygdala, das Angstzentrum im Gehirn, das bei einer Frau nach dem Kinderkriegen (aus Sorge um den Nachwuchs) erst richtig zu feuern beginnt, flippt aus. Ruth Rosenfeld wechselt zwischen am Boden liegendem Matschkörper und Amygdala in gehirnrosafarbenem Power-Umhang und Boxer-Moves hin und her.
Endlich mal Ruhe im Nervensystem
Aber die Frau am Boden, die sich vor dem Unfall noch Alles-wird-gut-Mantras vorgesagt und verzweifelt versucht hat, Karriere, Kinder und pflegebedürftige Eltern zu managen, während ihr Mann sich mit einem Meeting aus der Affäre zieht, diese Frau kann nicht mehr. Also fährt die Amygdala alle Funktionen herunter: "Die Atmung, den Blutdruck, die Hirnsignale. Ganz ehrlich, das ist das erste Mal seit Jahren, dass da mal ein bisschen Ruhe einkehrt im Nervensystem."
Das Publikum in der Schaubühne darf zu einem langen "Ohhhmmmm" in die Entspannung einstimmen. Und die unverhoffte Gelegenheit des Schädelbasisbruchs nutzt die Amygdala dazu, das Gehirn umzuprogrammieren. Sozialisierung: delete. Patriarchat: delete. Hauskredit: delete. Die rollenden Augen des Chefs, wenn das Kind krank ist: delete. Und schließlich auch – Kinder: delete.
Ein neues Leben ohne Erinnerung
Die beiden hohen Wände, die auf der Bühne einen rechten Winkel gebildet haben, einen toten Winkel, eine Ecke, in die die Frau getrieben wurde, öffnet sich zu gleißendem Licht. Dahinter liegt nicht der Tod, sondern die Klinik. Und ein Leben ohne Erinnerung und, so scheint es, ohne Amygdala.
Diese feministische Versuchsanordnung, die die österreichische Dramatikerin Anna Gschnitzer hier anlegt, endet mit der Utopie einer Liebe ohne Erschöpfung und Unterdrückung und einer Beziehung jenseits patriarchaler Strukturen. "Nein, ich bin nicht eure Mama. Ich bin keine Frau. Ich bin noch nicht mal ein Mensch. Ich bin ein Alien. Da wo ich herkomme, da gibt es Licht, das kann man gar nicht vergleichen mit diesem Licht hier, das kribbelt weich und warm im Körper. Kommt, ich zeig euch, wie sich das anfühlt", sagt sie ihren Kindern – und versucht eine neue Verbindung.
Das Gedankenspiel hilft nicht weiter
Die junge Regisseurin Anika Stauch gibt alles, um den Monolog mit wenigen Mitteln so bildstark und lebendig wie möglich auf die Bühne zu bringen. Ein Haus aus wenigen Eisenstangen, zwei unüberwindbare Wände, Licht und Schattenspiele, Musik und Klänge. Und Ruth Rosenfeld tut in ihrem Solo gut daran, die ironischen, komischen Töne im Stück herauszustellen.
Dass der Theater-Abend trotzdem nicht recht zünden will, liegt am Text, der viel zu klischiert und mit gestanzten Figuren Patriarchatskritik übt – und mit seiner Amygdala-Theorie nicht wirklich weiterhilft. Schon klar, dass es bei diesem Gedankenspiel ums große Ganze geht: Wie die alten Muster hinter sich lassen und nochmal neu (und bei sich selbst) beginnen? Doch warum sich dabei an einem Teil des Gehirns abarbeiten, wenn das Problem ein gesellschaftliches ist? Auch bei Männern, das verschweigt Anna Gschnitzer nicht, kann die Amygdala nach dem Vaterwerden extrem aktiv sein. Es kommt also auf die Einstellung ein, nicht auf die Biologie.
Sendung: rbb24 Inforadio, 15.10.2024, 6:55 Uhr