Interview | Bedrohte Insekten - Warum Schafgarben-Böckchen sich so wohl auf Berliner Mittelstreifen fühlen
Kaum ein Ort erscheint so lebensfeindlich wie der Mittelstreifen stark befahrener Straßen. Doch was der Insektenforscher Frank Koch vom Museum für Naturkunde Berlin zwischen den Fahrbahnen großer Straßen entdeckte, hat selbst ihn überrascht.
rbb|24: Herr Koch, wie kamen Sie auf die Idee, auf den Mittelstreifen nach Insekten zu suchen?
Frank Koch: Zuerst gab es das Projekt "Stadtgrün", das 2017 vom Institut für Gartenbau und Landwirtschaft an der Humboldt-Universität, zusammen mit dem Museum für Naturkunde Berlin gestartet wurde. Dabei ging es um den Anbau stressresistenter Pflanzen im städtischen Umfeld.
Auf einem Teil der Mittelstreifen wurde die obere Bodenschicht durch Sandboden ersetzt. In diesem nährstoffarmen Boden wurden dann diverse Pflanzen ausgebracht. Es sollte geprüft werden, wie sie mit dem Umweltstress zurechtkommen, also Trockenheit und permanente Hitze im Sommer, Tausalz im Winter und die Dauerbelastung durch Autoabgase. Zur Kontrolle wurde noch eine traditionell begrünte Fläche auf den Mittelstreifen untersucht.
Die Frage, welche Arten von Insekten dort vorkommen, war eher ein Nebenaspekt des Projekts. Ich persönlich bin davon ausgegangen, dort werden nicht allzu viele Arten zu finden sein. Vielleicht Ameisen oder eine Honigbiene oder Fliege, die zufällig vorbeikommt. Drei, vier, höchstens fünf Arten. Dass wir bis heute fast 450 Arten gefunden haben, hätte ich nicht für möglich gehalten.
Gab es noch weitere Überraschungen?
Ja, es gab einige Insekten die auf der Roten Liste der gefährdeten und stark gefährdeten Arten stehen, wie Wildbienen, Grabwespen, Bock-, Lauf- und Rüsselkäfer. Auf dem Mittelstreifen der Frankfurter Allee habe ich beispielsweise das Schafgarben-Böckchen gefunden, einen Käfer, der in Deutschland stark gefährdet ist.
Und dann war da noch die Heuschreckensandwespe, Sphex funerarius - die galt seit etwa 60 Jahren in Berlin und Brandenburg verschollen. Eine Art, die vor allem in Nordafrika und Südeuropa weit verbreitet ist. 2019 habe ich sie auf dem Mittelstreifen der Heerstraße wiederentdeckt. Außerdem 2021 Hylaeus intermedius, eine Maskenbienenart, die das erste Mal in Deutschland dokumentiert wurde.
Wie kommt es, dass auf den Mittelstreifen so viele verschiedene Arten zu finden sind?
Es sind natürlich Extrem-Standorte, auch aufgrund der Isolation. In der Frankfurter Allee und auf dem Adlergestell gibt es je Richtung drei Spuren und es wird relativ schnell gefahren. Da ist es schon verwunderlich, wie sich dort so eine Insektenvielfalt entwickeln kann. Aber diese Isolation bedeutet auch, dass kaum Fußgänger oder Hunde den Mittelstreifen frequentieren. Im Großen und Ganzen ist der Mittelstreifen sich selbst überlassen - solange er nicht gerade gemäht wird - daher können sich dort diese Insektenpopulationen ungestört entwickeln.
Sie haben die Bezirke davon überzeugt, dass nicht mehr so viel gemäht wird?
Mähen ist für die Mittelstreifen, die Insektenwelt und die wilde Vegetation immer Gift. Kurzgeschorene Rasen sind eigentlich immer tote Rasen. Ich habe das in den letzten Jahren immer wieder bei den Grünflächenämtern propagiert und inzwischen steht auch die Senatsverwaltung hinter mir. Die Mittelstreifen werden jetzt nur noch einmal im Jahr gemäht, im September und Oktober, damit die alte Vegetation Platz für neue Vegetation im Frühjahr macht. Früher wurde dort im Vierwochenrhythmus gemäht, da konnte sich kein Leben in Ruhe entwickeln.
Gab es Bedenken der Bezirke, zum Beispiel wegen der Verkehrssicherheit?
Eigentlich nicht. Es wurde auch vorher mit den Bezirken darüber gesprochen. Wenn Sie sich den Mittelstreifen auf der Frankfurter Allee anschauen, auch wenn noch nicht gemäht wurde: Es ist keine Beeinträchtigung zu erkennen. Es darf natürlich nicht verbuschen, auch aus diesem Grund muss einmal im Jahr gemäht werden. Das einzige Problem waren die langfristigen Verträge, die die Bezirke mit den Pflegebetrieben hatten. Aber mittlerweile hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass die ungemähten Mittelstreifen gut für die urbane Natur sind. Gerade wo in Berlin immer mehr Brachflächen verschwinden, die für die Insekten von großer Bedeutung sind.
Ist der Bodenaustausch mit zusätzlichen Kosten für die Kommunen verbunden?
Der Boden muss nicht unbedingt ausgetauscht werden, es reicht auch aus, die obere Bodenschicht in einem gewissen zeitlichen Abstand zu fräsen. Wenn die Grasnarbe zerstört ist, entwickelt sich die Vegetation von selbst. Selbst wenn die Mittelstreifen sich selbst überlassen werden, kommen immer mehr Blühpflanzen zum Vorschein, beispielsweise Schafgarbe oder Kreuzblütler wie die Graukresse. Gerade diese sind für kleine Wildbienen, die oft nur drei bis fünf Millimeter groß sind, wichtig. Insekten, die die Stadtbewohner kaum wahrnehmen.
Ist das auch ein Modell für andere Städte?
Ja, da besteht auch ein wachsendes Interesse daran, mit wenig Aufwand Plätze für die Natur in den Städten zu schaffen. Insgesamt sind die wilden Mittelstreifen ein gutes Geschäft für die Städte und für die Natur. Die Verwaltungen sparen Geld fürs Mähen, das sie zum Teil auch wieder in die Mittelstreifengestaltung investieren können, und schaffen somit Oasen für die Insekten.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Andreas Heins.
Sendung: Radioeins, 23.09.2023, 10:10 Uhr