Funktionaler Analphabetismus - Richtig lesen und schreiben lernen - mit 54 Jahren
In Brandenburg können laut einer Studie über 180.000 Menschen nicht richtig lesen oder schreiben. Das Verschleiern kostet Kraft, sich zu offenbaren enorme Überwindung. Ramona stand kurz vorm Burn-out, und hat sich getraut. Nun will sie anderen helfen.
Formulare ausfüllen, E-Mails lesen oder eine Geburtstagskarte schreiben - für Ramona Harzmann aus dem Kreis Elbe-Elster waren diese alltäglichen Dinge lange Zeit ein absoluter Spießrutenlauf. Über 50 Jahre hat es gedauert, bis sie offen darüber sprechen konnte.
Nur wenige Menschen wussten bereits davor, dass ihr Lesen schwer fällt und Schreiben große Probleme bereitet. Das lag vor allem an der Scham. Über die Jahre hatte Ramona verschiedenste Wege gefunden, damit niemand etwas mitbekommt.
Kleinere Texte ließ sie sich oft vorlesen. "Ich habe meistens gesagt, dass ich die Brille vergessen habe", erzählt die 54-Jährige. Eine Freundin half ihr bei wichtigen Formularen, bei der Arbeit lernte sie vieles auswendig. So habe auch ihr Chef jahrelang nichts geahnt, erzählt sie.
Doch das ständige Verheimlichen zehrte an den Nerven. Ein Burn-out zwang Harzmann zum Umdenken. Sie musste offen über ihre Probleme sprechen. "Mein Chef ist aus allen Wolken gefallen, weil er gar nicht geahnt hatte, dass es mir so schwerfällt", sagt sie. Er konnte demnach kaum glauben, dass Harzmann das alles so lange geheim halten konnte.
Es beginnt meist in der Schule
Sabine Rau vom Grundbildungszentrum Elbe-Elster hat seit Jahren Kontakt zu funktionalen Analphabeten wie Ramona. Also zu Menschen, deren Fähigkeiten in Bezug auf Lesen und Schreiben zwar in Teilen vorhanden sind. Deren Fähigkeiten aber nicht ausreichen, um voll und ganz am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können.
"Ich glaube, das große Problem liegt darin, dass Lesen und Schreiben ausschließlich in der ersten Klasse unterrichtet wird", sagt Rau. "Wer da als kleiner Zwerg den Anschluss nicht kriegt, dem fällt es in der Regel sehr schwer, mithalten zu können."
Auch Ramona Harzmann hatte als junge Schülerin Probleme im Unterricht. In der DDR sei sie auf eine Hilfsschule gegangen. "Da habe ich gesagt gekriegt, ich werde mal Toilettenfrau."
Doch die 54-Jährige konnte sich trotz der Stigmatisierung behaupten. Bis zu einer Krebsdiagnose vor einem Jahr war sie als Anlagenführerin angestellt. Jetzt holt sie das, was sie während der Schulzeit verpasst hat, an der Volkshochschule nach.
Gleichzeitig will Harzmann anderen Menschen helfen, ihren Weg zu finden, sich Hilfe zu suchen, um entspannter leben zu können. Dafür ist sie jetzt als Lernbotschaftlerin mit dem "ALFA-Mobil" unterwegs.
Das mobile Informationsangebot macht in unterschiedlichen Städten Halt, um Betroffene zu erreichen. "Ich will erzählen, dass es auch Hilfe gibt, dass man sich dafür nicht schämen muss", sagt Ramona Harzmann. Und: "Ich verheimliche nichts mehr, ich bin über diese Punkt hinaus."
Sendung: Antenne Brandenburg, 18.04.2024, 16:40 Uhr