Interview | Fünf Jahre Corona - "Wir hatten keine Lastwagenkolonnen mit Leichensäcken wie in Bergamo"
Vor fünf Jahren begann die Corona-Pandemie - die Kliniken in Berlin mussten unter enormen Zeitdruck ein Verteilsystem für Patienten entwickeln. Vernetzung war wichtig, sagt Martin Kreis, Vorstandsmitglied der Krankenversorgung der Charité.
rbb|24: Herr Kreis was geschah in den Kliniken, als die Auswirkungen von COVID-19 bekannt wurden?
Martin Kreis: Es herrschte zunächst eine große Unsicherheit. Die Bilder aus Bergamo in Italien, wo das Gesundheitssystem überfordert war, waren allgegenwärtig. Ähnliche Szenarien spielten sich später in Frankreich und England ab. In Deutschland gab es große Sorgen unter den medizinischen Fachkräften, ob wir der Welle standhalten oder ebenfalls eine Überforderung und Unterversorgung erleben würden.
Mit welchen Problemen waren Sie an Ihrem Klinikstandort konfrontiert?
Es gab große Sorgen, dass sich Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte infizieren könnten. In Bergamo waren Kolleginnen und Kollegen gestorben, weil sie sich bei der Behandlung infiziert hatten. Diese Szenarien betrafen uns auch persönlich stark. Wir diskutierten intensiv, wie wir uns selbst schützen und gleichzeitig die Patienten optimal behandeln können.
Hatten Sie den Eindruck, man war gut auf die Pandemie vorbereitet?
Durch die Beobachtungen im europäischen Ausland waren wir etwas besser vorbereitet als andere Länder. Dieser zeitliche Vorsprung war ein Vorteil. Innerhalb der Einrichtungen rüsteten wir uns auf, diskutierten über die Beschaffung von Masken und Material. Frühzeitig begann ein Austausch mit der Politik, die uns erstens um Rat fragte und mit der wir zweitens klären mussten, wie wir uns aufstellen konnten. Diese Gespräche führten zu Interaktionen und Vernetzungen.
Wie war die Kommunikation zwischen den Kliniken im Januar 2020?
Vor der Pandemie gab es bereits telefonischen Austausch zwischen Kliniken, insbesondere zwischen den Intensivstationen, wenn es um Patientenübernahmen ging. Üblicherweise wurden Verlegungen in eine größere Klinik telefonisch abgesprochen, wenn die Kolleginnen und Kollegen vor Ort an Behandlungsgrenzen kamen. Vor der Pandemie kam es jedoch eher selten vor, dass sich Ärzte aus unterschiedlichen Krankenhäusern bei der Behandlung der Patienten gegenseitig beraten haben.
Wie schnell hat sich die Zusammenarbeit mit anderen Kliniken und der Senatsverwaltung ergeben?
Die Zusammenarbeit erfolgte auf verschiedenen Ebenen. Innerhalb der Charité richteten wir innerhalb weniger Tage einen sogenannten Pandemie-Stab ein, der sich anfangs täglich online über alle Standorte hinweg zusammenschaltete, um die drängenden Themen zu besprechen. Zunächst wurden die aktuellen Patientenzahlen sowie die Kapazitäten besprochen, gefolgt von spezifischen Themen aus den einzelnen Kliniken. Ähnlich organisierte die Senatsverwaltung wöchentliche Online-Treffen der Berliner Kliniken, um die aktuelle Situation zu diskutieren und Strategien zur besseren Vorbereitung zu entwickeln. Zudem wurde das SAVE-Netzwerk [Anmerkung der Redaktion: Sicherstellung der akuten intensivmedizinischen Versorgung im Laufe der Epidemie] ins Leben gerufen, um den Austausch unter den intensivmedizinischen Fachkräften zu fördern, da diese die schwersten Fälle behandelten.
Wie funktioniert das SAVE-Netzwerk?
SAVE wird von erfahrenen Oberärzten der Charité gesteuert und hat mehrere Funktionen. Es gibt eine Einteilung der Intensivstationen in Berliner Krankenhäusern in drei Stufen, um sicherzustellen, dass Patientinnen und Patienten entsprechend ihrer Bedarfe zugeordnet werden. Die Idee war, die schwersten Fälle, die beispielsweise eine ECMO [Anmerkung der Redaktion: extracorporale Membranoxygenierung; "künstliche Lunge"] benötigten, in die Charité zu verlegen, um deren Kapazität nicht mit weniger schweren Fällen zu belegen, die auch in anderen Häusern versorgt werden konnten. Die Charité hält besonders viele ECMOs vor. Unterstützt wurde die Zusammenarbeit durch Visitenroboter, die in mehreren Kliniken vor Ort waren. Diese ermöglichten es Spezialisten von anderen Standorten, Patienten via Kamera zu begutachten und direkt mit dem Team am Bett zu diskutieren, ob eine Verlegung in ein besser ausgestattetes Zentrum nötig oder eine Optimierung der Therapie vor Ort möglich war.
Konnte man das SAVE-Modell während der RSV-Welle (Respiratorische Synzytial-Virus) 2022 im Detail wieder abrufen?
Die RSV-Welle betraf vor allem Kinder, das war eine andere Situation. Es gibt deutlich weniger Kinderkliniken und Kinderintensivbetten in Berlin als für die Erwachsenenmedizin. Wir versuchten, mit den vorhandenen Mitteln eine Koordinationsfunktion seitens der Charité zu übernehmen und standen in Kontakt mit den anderen Intensivstationen. Da es weniger Kinderintensivstationen gibt, war dies übersichtlicher. Im Prinzip haben wir versucht, die Kommunikationsmechanismen, die wir während der Corona-Pandemie mit SAVE gelernt hatten, wieder anzuwenden.
Falls uns eine neue Pandemie droht - könnte man SAVE dafür erneut anwenden?
Wir wissen, wie es geht. Das SAVE-Modell könnte meines Erachtens jederzeit wieder eingesetzt werden, wenn eine vergleichbare Pandemie auftritt. Diejenigen, die es damals erlebt haben, bewerteten es durchweg positiv. Allerdings bedarf es einer Finanzierung und Zusammenarbeit. Wenn wir bestimmte Schwerpunkte und Koordinierungen übernehmen, müssen uns andere an anderen Stellen entlasten. Dieses effektive Vorgehen hat den Berliner Kliniken während der Pandemie wesentlich geholfen.
Sie sprechen von einem künftigen möglichen Einsatz bei einer "vergleichbaren Pandemie" - doch wie ist es bei einer ganz anderen Krankheit?
Dann wissen wir zumindest, wie die Kommunikationsstrukturen und Abläufe bei einem Krisenfall im Gesundheitswesen funktionieren und könnten diese entsprechend anpassen. Wir haben durch SAVE gelernt, dass gewisse Vorbereitungen notwendig sind. Ich möchte daran erinnern: Wir hatten keine Lastwagenkolonnen mit Leichensäcken wie in Bergamo vor unseren Kliniken oder Krankenwagenschlangen, die ihre Patienten nicht mehr unterbringen konnten, wie es in London der Fall war. Ich bin fest davon überzeugt, dass dies auch darauf zurückzuführen ist, dass wir uns über alle Kliniken hinweg hervorragend aufgestellt und vernetzt haben.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Helena Daehler
Sendung: rbb24 Inforadio, 02.01.2024, 07:45 Uhr