Interview | Demografie in Brandenburg - "Abwanderung löst einen Teufelskreis aus"

Mo 19.08.24 | 06:21 Uhr
  87
Hausruine, Am Alten Gymnasium, Neuruppin, Landkreis Ostprignitz-Ruppin. (Quelle: dpa/imageBROKER | Joko)
Bild: dpa/imageBROKER | Joko

In Brandenburg gibt es deutlich mehr junge Männer als junge Frauen, nicht erst seit diesem Jahr. Die Soziologin Katja Salomo beschäftigt sich mit der Frage, woran das liegt – und was den Trend umkehren könnte.

In der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen gibt es dem Zensus 2023 zufolge in Brandenburg einen Männerüberschuss – vor allem in ländlichen Gemeinden. Der Männerüberschuss in Brandenburg hat, ähnlich wie in anderen ostdeutschen Bundesländern, historische, wirtschaftliche und soziale Gründe, sagt die Soziologin Katja Salomo. Forscher:innen wollen nun herausfinden, wie sich das Verhältnis von Frauen und Männern auf das Leben in Ostdeutschland auswirkt.

rbb|24: Frau Salomo, mit dem Zusammenbruch der DDR begann eine Abwanderungswelle – auch aus Brandenburg. Ist der Männerüberschuss in einigen Teilen der Bevölkerung eine Spätfolge der 1990er Jahre?

Katja Salomo: So könnte man es sagen, allerdings gibt es dafür noch mehr Gründe. Ostdeutschland hat drei große Abwanderungswellen erlebt, die erste noch vor dem Bau der Mauer.

Die zweite Abwanderungswelle nach der Wende war eine Reaktion auf die Massenarbeitslosigkeit. Dementsprechend sind vor allem Menschen gegangen, die schon etwas älter waren und arbeitslos geworden sind, und natürlich auch die, die schon immer gehen wollten.

Dann gab es eine dritte Welle, die ihren Höhepunkt zwischen 2000 und 2005 hatte, über die sprechen wir heute. Hier geht es um die erste Generation, die vergleichbare Lerninhalte und Schulabschlüsse zu Westdeutschland und somit vergleichbare Chancen auf dem gesamtdeutschen Arbeitsmarkt hat. In der dritten Welle sind es junge, zumeist gut ausgebildete Menschen, die gegangen sind. Da Frauen häufiger formal höhere Schulabschlüsse erreichen, waren unter ihnen schon allein deshalb mehr Frauen als Männer.

Zur Person

Katja Salomo ist Soziologin am Berlin Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB). (Quelle: K. Salomo)
K. Salomo

Katja Salomo ist Soziologin am Berlin Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB).

Sie haben in einem anderen Interview erklärt, nach der Abwanderung zu Beginn der 1990er Jahre seien tendenziell eher Männer in die Heimat zurückgekehrt. Viele Frauen dagegen im Westen geblieben – woran liegt das?

Was die Frauen im Westen gehalten hat, lässt sich nicht hundertprozentig erklären. Es gibt aber ein paar Hinweise darauf, dass es ostdeutschen Frauen in Westdeutschland leichter fiel als ostdeutschen Männern, Partner zu finden und eine Familie zu gründen. Nach der Familiengründung im Westen sind dann viele der Frauen auch dortgeblieben. Männer sind hingegen häufiger zurückgekehrt, um Familien zu gründen. Natürlich ist das nur eine Tendenz, es gibt etliche Ausnahmen.

Welche Regionen waren denn ganz besonders von dieser Abwanderung betroffen?

Alle neuen Bundesländer waren stark betroffen, innerhalb der Bundesländer aber kann man differenzieren. Die größeren Städte zählen nicht zu den großen Abwanderungsorten, insbesondere nicht die Universitätsstädte. Betroffen sind vor allem ländliche Regionen, insbesondere diejenigen, die in den 1990er Jahren unter hoher Arbeitslosigkeit litten. Die kollektive Erfahrung sehr hoher Arbeitslosigkeit hat jungen Menschen vielleicht signalisiert, dass man diese Regionen verlassen muss, um etwas aus sich zu machen. Auch das ist eine Spätfolge der Wende und wie sie gehandhabt wurde.

Welche Rolle hat die Wirtschaft in Ost und West gespielt, beziehungsweise der Umstand, dass Frauen tendenziell in anderen Berufen gearbeitet haben und noch immer arbeiten?

In der Forschung vermuten wir tatsächlich, dass ein weiterer Grund für die Abwanderung von Frauen ist, dass sie häufiger in Dienstleistungsberufen arbeiten. Erstens ist das Gehaltsgefälle in vielen Dienstleistungsberufen zwischen Ost und West noch größer als in anderen Berufen. Wenn sie das Gehaltsniveau in den Pflegeberufen zwischen Sachsen, Thüringen oder Brandenburg mit denen in Bayern vergleichen, werden sie feststellen, dass es sich finanziell einfach wirklich lohnt, im gleichen Beruf in Bayern zu arbeiten.

Zweitens gibt es anteilsmäßig mehr Dienstleistungsberufe in Westdeutschland. Das hat viel mit der unterschiedlichen Struktur der Wirtschaft in Ost und West zutun, aber von staatlicher Seite wurde auch nicht gut gegengesteuert. Beispielsweise steht im Einheitsvertrag, dass alle neuen Bundesinstitutionen im Osten gegründet werden sollten. Das ist nie passiert, und somit kamen weder diese Jobs nach Ostdeutschland noch die Dienstleistungsjobs, die sich meist im Umfeld solcher Institutionen ansiedeln. Wenn man keine für sie attraktiven Jobs anbietet, kann man die Frauen auch nicht halten in der Region, das ist ganz klar.

Sie hatten einmal über einen Zusammenhang von Männerüberschuss und Rechtspopulismus gesprochen. Was bedeutet die jetzige Situation für die politische Entwicklung der ländlichen Regionen in Brandenburg?

Eine Studie von US-amerikanischen Wissenschaftler:innen konnte zeigen, dass es in Deutschland zwischen 2015 und 2017 häufiger zu Übergriffen auf Flüchtlingsheime und Attacken auf Flüchtlinge kam, wo Frauen in der Heiratspopulation fehlten. Dieser Zusammenhang gilt für die neuen und alten Bundesländer, nur ist der Männerüberschuss in den neuen Bundesländern viel stärker ausgeprägt. Erklärt wurde das damit, dass die AfD damals gezielt die Drohkulisse aufgebaut hat, männliche Flüchtlinge würden den deutschen Männern die Frauen "wegnehmen". Das heißt ja, insofern existiert ein Zusammenhang.

Ein weiterer Zusammenhang ergibt sich eher aus problematischen demografischen Entwicklungen. Regionen, die hohe Abwanderung erfahren haben, an Alterung, Männerüberschuss und geringen Kinderquoten leiden, haben auch viel an Infrastruktur verloren. Alles von regelmäßigen Busverbindungen in die nächstgrößten Städte bis hin zum Bäcker, dem Fleischer, oder der Post ging verloren, Häuser stehen leer, soziale Netzwerke werden homogener, weil viele jungen Menschen nicht mehr vor Ort sind. Soziale Treffpunkte wie Kneipen oder Tankstellen schließen, Jugendclubs in den ländlichen Gebieten in Ostdeutschland gibt es eh selten. Das alles macht etwas mit den Menschen und dieses Gefühl des Verlusts und der Stagnation weiß die AfD für sich zu nutzen.

Wie wahrscheinlich ist es, dass sich der Trend umkehrt und mehr junge Frauen nach Brandenburg kommen?

Ich will nicht hoffnungslos klingen, aber das wird schwer. Denn Abwanderung löst einen Teufelskreis aus, sobald auch die Infrastruktur vor Ort schrumpft. Viele Schulen, Kitas und andere Einrichtungen, die für junge Familien wichtig sind, wurden in ländlichen Gebieten aufgrund der hohen Abwanderung geschlossen oder zusammengelegt, sodass zum Beispiel Schulwege länger wurden. Politisch müsste man versuchen, die ländlichen Gebiete für junge Familien attraktiver zu machen. Der Wille dazu ist definitiv da, aber oft fehlt den Gemeinden auch die weibliche Perspektive, um zu wissen, wo man am besten ansetzen sollte. Das liegt daran, dass Frauen politische Ämter in Gemeinden generell seltener als Männer übernehmen und genau diese Generation von Frauen in den ostdeutschen ländlichen Regionen zudem seltener leben.

Was könnte man noch unternehmen, um die Regionen für Frauen attraktiver zu machen?

Eine Studie aus Ostsachsen zeigt, dass junge Frauen stärker als junge Männer darunter leiden, dass sowohl Mobilitätsangebote als auch kulturelle Angebote auf dem Land etwas eingeschränkt sind. Vielleicht könnte man da ansetzen. Generell bin ich jedoch der Meinung, Regionen sollten eher versuchen, Familien anzulocken. Im Ausbau der Digitalisierung und der Ausweitung von Homeoffice-Jobs liegt eine riesige Chance für ländliche Gebiete. Jedoch: Wenn man beispielsweise vergisst, Schulwege auf dem Land möglichst kurz zu halten, wird man trotz Homeoffice keine Familien anziehen. Keine Familie freut sich, wenn die Kinder zwei Stunden am Tag im Bus sitzen. Das wären Gebiete, in denen Akteure in der Politik langfristig Verbesserungen erzielen könnten. Und immerhin lässt sich ja schon festhalten, dass die Zu- und Abwanderungsrate in Ostdeutschland heute schon eher ausgeglichen ist. Das ist ein gutes Zeichen.

Frau Salomo, vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Roberto Jurkschat

Sendung:

Die Kommentarfunktion wurde am 19.08.2024 um 22:18 Uhr geschlossen. Die Kommentare dienen zum Austausch der Nutzerinnen und Nutzer und der Redaktion über die berichteten Themen. Wir schließen die Kommentarfunktion unter anderem, wenn die Zahl der Kommentare so groß ist, dass sie nicht mehr zeitnah moderiert werden können. Weiter schließen wir die Kommentarfunktion, wenn die Kommentare sich nicht mehr auf das Thema beziehen oder eine Vielzahl der Kommentare die Regeln unserer Kommentarrichtlinien verletzt.

87 Kommentare

Wir schließen die Kommentarfunktion, wenn die Zahl der Kommentare so groß ist, dass sie nicht mehr zeitnah moderiert werden können. Weiter schließen wir die Kommentarfunktion, wenn die Kommentare sich nicht mehr auf das Thema beziehen oder eine Vielzahl der Kommentare die Regeln unserer Kommentarrichtlinien verletzt. Bei älteren Beiträgen wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen.

  1. 87.

    Männer wie Sie sind DER Grund, weshalb junge und kluge Frauen aus den ländlichen Gegenden flüchten...Würd ich auch!

  2. 86.

    Aha, Frauen können also nur im Büro arbeiten? Vielleicht noch am Herd? Wo leben Sie denn? Es gibt auch Handwerkerinnen! Vielleicht mal einen Blick aus Ihrem veralteten Stall werfen!?

  3. 85.

    Ja genau - Und wer nach Jwd ins Nirgendwo zieht, ist doch sowieso selbst schuld - irgendwann hört der erweiterte Speckgürtel schließlich auch auf und dann fangen die schrumpfenden Landkreise/Städte an.

  4. 84.

    Berlin, Potsdam und der Speckgürtel sind doch schon ein Ballungsraum von ca. 5 Millionen Menschen - erweiterter Ballungsraum ca. 6 Millionen.
    Man sollte auch nicht Alles so negativ sehen, LG.

  5. 83.

    Na und?
    Wertschöpfung bringt Industrie und Landwirtschaft.
    Selbstverwaltung durch weibliches Büropersonal per se nicht.
    Daher ist das alles relative egal - wer nur schnelles Geld will kann gern gehen.

  6. 82.

    ...das Schweigen zu diesem Beitrag ist groß..sehr groß...er wird bald verschwinden und vergessen sein?

  7. 81.

    Das gilt aber nur für den Speckgürtel, aus dem man Berlin täglich erreichen kann. Tief in Brandenburg und auch in Meck Pom ist genau das, was im Artikel beschrieben ist.

  8. 79.

    Und wenn sich ein Industriebetrieb ansiedeln wil und auch noch die Infrastruktur liefert (TESLA) kommen sofort die Nörgler und Bedenkenträger. Gott sei Dank hat hier die Brandenburger Landesregierung schnell und zügig gehandelt.

  9. 78.

    Die jungen Frauen im Osten waren im Gegensatz zu den Männern in der Mehrheit schon immer taffer! Die jungen Männer fahren lieber Moped oder Karre, trinken viel und Angeln und pflegen ihre Opferolle!

  10. 77.

    Sorry Korrektur, ich meinte Gemeinde, nicht Landkreis, die Landkreise sind insgesamt mit einem Männerüberschuss, außer Potsdam, aber das passt ja dann wieder.

  11. 76.

    Es geht um die Tendenz und nicht jede einzelne Gemeide. Die Landkreise insgesamt sind, außer Potsdam, mit einem Männerüberschuß.

  12. 74.

    Dann schauen Sie sich mal, die Grafiken genau an : In mehreren Ländlichen Kommunen, gibt es einen Frauenüberschuss.
    So einfach ist es auch nicht - Städte/Großstädte sind nicht immer besser als ländliche Regionen, LG.

  13. 73.

    Abwanderung ???
    Umland-Kreise wie TF, HVL, BAR, LDS sind sogar Deutschlandweit mitführend, beim Bevölkerungswachstum aller Landkreise.
    Genauso, wie bei der Anzahl junger Erwachsener.
    Berlin, Potsdam und das Berliner Umland, spielen beim Bevölkerungswachstum und bei jungen Menschen, in der Ersten Liga.

  14. 72.

    Das erklärt aber alles noch nicht, warum es auf dem Land einen Männerüberschuss gibt. Das was Sie an Argumenten bringen, würde für Männer wie für Frauen gleichermaßen gelten.

  15. 71.

    Trotzdem gibt es einen Männerüberschuss auf dem Land, nicht in der Stadt und das muss Gründe haben, die für Frauen anders liegen als für Männer. Und neben allem, was Sie schon angeführt haben , kommt noch die besondere Rolle der Frau zum Tragen, sowohl bei der Berufswahl, als auch bei der Rolle, die Ihr von einigen zugeschrieben werden soll. Ich würde, wenn ich eine Frau wäre, nicht in veralteten Strukturen aufwachsen wollen, die von der AfD gerne bedient werden. Ich würde mich für meine Freiheit entscheiden und nicht für die Rolle der Frau, die die AfD den Frauen gerne versucht, schmackhaft zu machen. Das mag vielleicht für Männer interessant sein, für Frauen ist es das bestimmt weniger. Würden Sie in einem solchen Umfeld bleiben wollen?

  16. 70.

    Der Osten schafft sich ab - darin hat er bereits lange Übung. Nach der Wende haben die Ostdeutschen insbesondere Produkte aus dem Westen gekauft - im klaren Bewußtsein damit gegen die eigenen Arbeitsplätze und die eigene Bevölkerung zu handeln. Heute wird ein Klima geschaffen, das keine positive Wirkung auf (Neu-) Bürger hat: Gewalt gegen alle die vom "Normalen" abweichen und ein ständiges Jammern wie schlimm alles ist. Gehälter werden immer mit denen aus München verglichen und bei den Rentnern würde ein Blick in die Statistik zeigen, dass es besonders ostdeutschen Rentnern gut geht (hohe Renten - besonders bei Frauen - und preiswerte Regionen zum Leben). Und in zwei Wochen werden dann Hell- und dunkelbraun gewählt und die Abwärtsspirale weiter gedreht. Warum hasst Ihr Euch so?

  17. 69.

    Natürlich wurden die ländlichen Regionen abgehängt. Der Zusammenbruch der Industrie war doch nur der Anfang. In der Folge ist auch die Infrastruktur zusammengebrochen und weggespart worden, was wiederum zur Folge hatte, dass diese Regionen für Neuansiedlungen unattraktiv geworden sind. Unternehmen haben diese Regionen nur als billige Werkbank benutzt und wenn die Subventionen ausgelaufen waren, waren sie ganz schnell wieder weg. Das hätte die Politik steuern können und müssen, es war den überwiegend westdeutschen Politikern allerdings egal, weil jeder nur auf seinen eigenen Wahlkreis schaut.

  18. 68.

    Was für ein verallgemeinernder, unreflektierter Unfug! Die Abwanderungsbewegung des ländlichen Raumes liegt an den miserablen Perspektiven dort. Unser Staat hat es die ganze Zeit billigend in Kauf genommen. Die Metropolen werden immer voller und teurer, weil es quasi nur dort die Arbeitsplätze der Zukunft gibt. Firmengründungen und -ansiedlungen in den ländlichen Regionen gehen kontinuierlich zurück, weil die Standorte unattraktiv geworden sind. Es mangelt an schnellem Internet genau so, wie an guter Erreichbarkeit. Dazu ein Mangel an Kinderbetreuung, Ärzten und auch Kulturangeboten. Das sind aber nun mal die Grundvoraussetzungen. Bei beidem versagt der Staat eklatant. Gleichzeitig verschärft das den Wohnungsmangel und die Preise in den Metropolen, wo es das ganz selbstverständlich gibt.

Nächster Artikel