Weltgipfel für Menschen mit Behinderungen - "Es geht nicht um Wohltaten, es geht um Menschenrechte"

Mi 02.04.25 | 13:01 Uhr
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Besucherinnen im Rollstuhl sind auf dem Weltgipfel für Menschen mit Behinderungen unterwegs. Beim Global Disability Summit werden rund 3000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus aller Welt erwartet. (Quelle: dpa/Kappeler)
Audio: rbb 88.8 | 01.04.2025 | Interview mit Jürgen Dusel | Bild: dpa/Kappeler

Berlin richtet ab Mittwoch den Weltgipfel für Menschen mit Behinderungen aus. Der Bundesbeauftragte Jürgen Dusel erklärt im Interview, wie die Lebenssituation der Betroffenen aus seiner Sicht verbessert werden kann.

rbb: Herr Dusel, was kann der Weltgipfel für Menschen mit Behinderungen ergeben?

Jürgen Dusel: Wir werden wahrscheinlich über ganz viele unterschiedliche Themenfelder reden. Ob das nun der Zugang zum Gesundheitssystem ist weltweit, ob es die Teilhabe am Arbeitsleben ist - es geht viel um Bildung. Und es geht natürlich um die gesamten Bereiche, die Menschen insgesamt betreffen und damit auch Menschen mit Behinderung.

Wie behindertengerecht sind wir in Berlin?

Berlin ist da gar nicht so schlecht im Vergleich zu anderen deutschen Städten, aber es könnte natürlich noch besser sein, gerade wenn ich mir die Barrierefreiheit anschaue und zwar im privaten Bereich: also Zugang zu Hotels, Restaurants, Kinos, Kneipen, zum Theater. Wie sieht es aus, wenn ich eine Fachärztin, einen Facharzt besuchen will und bin im Rollstuhl? Komme ich da überhaupt hin? Auch Berlin hat da Nachholbedarf. Das hat mit rechtlichen Regelungen zu tun oder mit Regelungen, die eben nicht getroffen sind. Da sind wir in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern wirklich nicht gut aufgestellt.

Zur Person

Jürgen Dusel (Foto: rbb/Oliver Ziebel)
rbb/Oliver Ziebel

Jürgen Dusel ist seit 2018 der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Er war von Mai 2010 bis Mai 2018 Beauftragter der Landesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen in Brandenburg. Der Jurist ist von Geburt an stark sehbehindert.

Wer ist da besser aufgestellt?

Österreich zum Beispiel. Die Österreicher haben vor Jahren angefangen, auch private Anbieter von Produkten und Dienstleistungen, die für die Allgemeinheit bestimmt sind, auch zur Barrierefreiheit zu verpflichten. Und wenn es eben um die Allgemeinheit geht, da geht es eben auch in Deutschland um 13 Millionen Menschen mit Behinderungen. Jeder sechste von uns in Deutschland hat eine Beeinträchtigung. Die Gruppe ist sehr heterogen und wir gucken ja meistens immer nur so auf die Schule und das gemeinsame Lernen. Aber das ist wirklich die allerkleinste Gruppe. Es geht wirklich um alle Themenbereiche - in Deutschland, aber eben auch weltweit.

Welche Länder gibt es noch? In den USA gibt es beispielsweise überall Blindenschrift.

Das hat was mit den rechtlichen Regelungen zu tun. Es gibt den ADA, den American with Disability Act. Aber auch wenn man nach Großbritannien schaut beispielsweise, ist es auch selbstverständlicher, dass Menschen mit und ohne Behinderung nicht nur sozusagen gemeinsam was unternehmen können, sondern eben auch die gemeinsamen Rechte haben. Das hat mit einem anderen Spirit zu tun. Wir haben in Deutschland da wirklich noch nachzuholen.

Sind wir deshalb so rückschrittlich, weil die Leute und der Gesetzgeber es nicht schaffen, alle Belange mitzudenken oder woran liegt das?

Das hat damit zu tun, dass viele Menschen Bilder in den Köpfen haben von Menschen mit Behinderungen. Wenn wir über Inklusion reden und teilweise auch wirklich streiten, dann geht es vor allem um das Thema Bildung. Aber von den 13 Millionen Menschen werden nur drei Prozent mit ihrer Behinderung geboren.

97 Prozent erwerben die Behinderung nach der Schule. Das heißt, wenn wir immer nur über gemeinsames Lernen reden und uns teilweise auch furchtbar aufregen - die einen sind dafür, die anderen sind dagegen -, dann werden wir 97 Prozent der Menschen überhaupt nicht gerecht, weil sie eben keine Behinderung hatten, als sie zur Schule gingen.

Und die Gruppe ist wirklich heterogen. Die meisten denken vielleicht an Menschen in einem Rollstuhl, andere vielleicht an blinde Menschen. Aber die Gruppe ist eben sehr unterschiedlich und deswegen ist das Thema Barrierefreiheit auch nicht einfach "by the way" zu machen. Es braucht Expertise dazu. Am besten fragt man auch die Leute, die betroffen sind, also die Experten in eigener Sache - auch sie spielen jetzt bei diesem Gipfel eine wesentliche Rolle.

Ist es neu, dass die Betroffenen bei dem Gipfel mal eine kraftvolle Stimme haben?

Es ist zumindest die DNA, der rote Faden der UN-Behindertenrechtskonvention. Und der Satz: "Nichts über uns ohne uns", gilt natürlich auch. Ich finde, dass gerade die letzte Bundesregierung eine Menge gemacht hat zum Thema Partizipation. Aber das ist ein Auftrag, der eben auch die neue Bundesregierung dann binden muss.

Es geht wirklich darum, dass Menschen mit Behinderung von Anfang an beteiligt werden müssen. Es geht um ihre Rechte, denn es sind Bürgerinnen und Bürger unseres Landes und sie haben genau die gleichen Rechte wie alle anderen Menschen auch. Das sagt sich so einfach, aber wenn man sich anschaut, dass es eben wirklich eine Lücke gibt zwischen dem einen, was man als Recht auf dem Papier hat und dem anderen, was gelebt werden kann, ist auch die neue Bundesregierung gefordert, eben Recht umzusetzen. Das ist, glaube ich, das Wichtigste, was geschehen muss.

Besucher sind auf dem Weltgipfel für Menschen mit Behinderungen unterwegs. (Quelle: dpa/Kappeler)

Wir streiten so viel über gemeinsames Lernen. Wie ist Ihre Position?

Ich bin der tiefen Überzeugung, dass, wenn Kinder gemeinsam groß werden, wenn sie gemeinsam zur Schule gehen, wenn sie voneinander lernen, wenn sie gemeinsam Erfahrungen machen, wenn gerade auch nichtbehinderte Kinder lernen, dass es beispielsweise ein Kind im Rollstuhl gibt, das aber super in Mathe ist, dass es jemanden gibt, der vielleicht nicht gut gucken kann, aber andere Begabungen hat, dass es vielleicht Kinder mit Lernschwierigkeiten gibt, aber tolle Freundinnen und Freunde sein können - dass all das weit in die Gesellschaft hineinstrahlt.

Es ist aus meiner Sicht wirklich wichtig, dass Kinder gemeinsam groß werden. Denn wir lernen nur im Miteinander. So entstehen dann erst nicht Vorurteile, die wir dann später wirklich mit sehr viel Mühe wieder revidieren müssen.

Es geht darum, dass wir in einer Gesellschaft leben wollen, wo jeder gleich viel wert ist, wo wir alle die gleichen Chancen haben.

Jürgen Drusel

Menschen, die keine Behinderung haben, können am nächsten Tag auch eine haben. Aber: Solange sie das nicht haben, sagt diese Mehrheit gefühlsmäßig: "Wir machen jetzt mal für die anderen da auch was!" Und wenn wir diese Haltung haben, ist es natürlich auch nie richtig kraftvoll und auf Augenhöhe. Ist da was dran?

Da ist was dran. Natürlich können wir alle von Behinderung betroffen sein. Es geht also nicht um die anderen, sondern es geht um uns insgesamt als Gesellschaft. Es geht darum, dass wir in einer Gesellschaft leben wollen, wo jeder gleich viel wert ist, wo wir alle die gleichen Chancen haben, wo keiner ausgeschlossen ist. Dafür braucht es rechtliche Rahmenbedingungen.

Wenn nur 25 Prozent der Arztpraxen in Deutschland barrierefrei sind, dann können Menschen mit Behinderungen - gerade auch Frauen im gynäkologischen Bereich - eben ihren Arzt, ihre Ärztin nicht frei wählen. Sie zahlen aber genauso in die GKV ein wie alle anderen auch. Und das ist doch nicht gerecht. Es geht nicht um Wohltaten, es geht nicht um etwas Nettes, es geht nicht um was Karitatives, sondern es geht um Menschenrechte.

Wenn dann der Gipfel durch ist - es wurden viele Gespräche geführt und Impulse gesetzt -, was ist dann Ihre Haupthoffnung? Welche Art Strahlkraft erwarten Sie sich?

Dass es nachhaltig ist. Dass also dieser Gipfel nicht gemacht wird - und dann ist er vorbei. Sondern: Dass es wirklich nachhaltig ist, dass auch konkrete Verabredungen getroffen werden. Ich denke, es wird darum gehen, wie die wirtschaftliche Zusammenarbeit aussieht, also die sogenannte Entwicklungspolitik.

Aber wie sieht es ganz konkret aus auf dieser Welt? Wie sieht es aus für Frauen und Mädchen mit Behinderungen, die immer viel häufiger Opfer von Gewalt, auch von sexualisierter Gewalt sind, übrigens in Deutschland auch. Wie sieht es aus, wenn es um den Zugang im Gesundheitsbereich ausgeht? Ich denke da an die Pandemie beispielsweise. Wie sieht es aus bei bewaffneten Konflikten, wenn Menschen mit Behinderungen keinen Zugang haben zu Schutzräumen? Wie sieht es aus, wenn es um Wiederaufbau geht? - Also, es ist eine Menge zu tun, und es geht wirklich darum, dass man nicht nur drüber redet, sondern dass man tatsächlich etwas macht und dass es nachhaltig ist und dass es gut ist. Dafür trete ich auch ein.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview mit Jürgen Dusel führte Ingo Hoppe, rbb 88,8. Der Text ist eine gekürzte und redaktionell bearbeitete Fassung. Das Gespräch können Sie auch im Audio-Player nachhören.

Sendung: rbb 88.8, 01.04.2025, 18:10 Uhr

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7 Kommentare

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  1. 7.

    Vielleicht ist es eine Frage des Zungenschlags, was hier die Kontroverse ausmacht?

    Der Begriff der Nebelkerze legt nahe, dass hier ganz bewusst von etwas abgelenkt, also etwas ganz bewusst nicht gemacht werden soll, damit anderes Zuge kommen soll. Das beinhaltet eine Unterstellung und ich habe die Empfindung, dagegen richtet sich der Beitrag Nr. 5. Was Rundumschläge angeht, ist die AfD in der Tat führend. Wer alles negativ abdeckt (d. h. im Sinne dessen, was NICHT sein soll), sammelt in einer auf Negativität ausgerichteten Gesellschaft alles ein.

    Ich stimme mit Ihnen überein, dass Inklusion nicht zum Nulltarif zu haben ist, auch nicht so nebenbei erledigt werden kann, sondern ihr eigenes Budget braucht. Das Bestreben, in einer fast zum Selbstzweck ausgerufenen Konkurrenzsituation "vorne" sein zu wollen mit abstrakt gemessenen Spitzenergebnissen, dieses Bestreben steht in einem Zielkonflikt mit einer breiten Teilhabe aller. Die breite Teilhabe sollte Vorrang haben.






  2. 6.

    Das können Sie ja gerne tun. Ich möchte, dass jedes Kind Bildung erhält, unabhängig von Behinderung, Armut oder Reichtum, Herkunft oder Glauben. Wer Leistung im Erwachsenenalter erwartet, muss erstmal bei Kindern in Vorleistung gehen, sie fördern, wenn es nötig ist und Bedingungen schaffen, die Teilhabe ermöglichen.
    Ich stehe Inklusion nicht feindlich gegenüber, allerdings ist hierfür Personal nötig, Personal, das in Brandenburg gerade eingespart wird.
    Was meine Meinung mit der AfD zu tun haben soll, wissen anscheinend nur Sie, aber schön, dass Sie die 3 Buchstaben hier erwähnen durften, manche Leute können einfach nicht anders.

  3. 4.

    Richtig und die absolute Nebelkerze ist die Inklusion un den Schulen. Die Kinder sollen lernen, dass es Kinder mit Rollstuhl gibt. Ich denke, das sehen sie. Was sie nicht sehen, sind die zusätzlichen pädagogischen Fachkräfte, die Inklusion machbar machen. Was sie sehen, sind die Quereinsteiger, die allein gelassen sehen können, wie sie fertig werden.
    Dazu passt hervorragend das Lehrer-Sparprogramm, ersonnen von der Brandenburger Regierung und diese Regierung hätte es absolut nötig, das Bildungswesen des Landes als ebenbürtiges Großprojekt wie die Lausitz oder Tesla zu behandeln, damit es nicht im Cottbusser Ostsee baden geht.
    Wahrscheinlich findet aus der Brandenburgischen Regierung aber niemand die Zeit am Gipfel in Berlin teilzunehmen, man enthält sich neuerdings immer.

  4. 3.

    Vielen Dank für die Berichterstattung und die ausführliche Position des Bundesbeauftragten.
    Ich hätte mir aber doch noch mehr Basisinformationen gewünscht, wie zum Beispiel wo in Berlin findet dieser Gipfel statt, wer veranstaltet, kann ich auch als Otto-Normal-Behinderte dort teilnehmen oder muss ich Promibehinderte sein, kostet das Eintritt und wenn ja wie viele Euronen?
    Ich habe im Vorfeld keinerlei Berichterstattung wahrgenommen. Gab es keine im rbb? War wenigstens der rollstuhlfahrende rbb-Mitarbeiter vor Ort?

  5. 2.

    Soweit allein technische Vollzüge walten, soweit sich Gesellschaften mehr oder weniger als rein technische definieren, fallen Menschen mit irgendwelchen Einschränkungen definitiv heraus. Sie mindern. Sie kosten. Sie "drängen" derartige Gesellschaften unterhalb des Maximums.

    ´Frage danach, wie rein technisch eine Gesellschaft aufgestellt ist und ich sage Dir, wie es um die gleichberechtigte Sichtweise auf Menschen mit Einschränkungen geht.´

    Dies nicht nur, was die billige Inkaufnahme von Defekten bei Aufzügen geht, um reiner Kosteneinsparung willen, was das Zustellen von barrierefreien Wegen durch Kfz., angeht, wo doch so große "Parkplatznot" herrsche, sei es, dass jemand auf seinem edlen Bike mit 40 km/h an Seheingeschränkte vorbeidonnert, dass die nicht mehr wissen, wo hinten oder wo vorn ist.

  6. 1.

    Also Berlin ist dafür nicht der geeignete Veranstaltungsort.
    Man muss sich nur die täglichen Aufstellungen der defekten Aufzüge in den Bahnhöfen der S- und U-Bahnen ansehen um festzustellen, dass Berlin es sich verkneifen sollte eine derartige Veranstaltung auszurichten. Aber jetzt wieder große Töne schwingen und Nebelkerzen werfen, damit man die Einsparungen auch im sozialen Bereich nicht sieht.