Interview | Politikwissenschaftler zum 1. Mai - "Die heutige Jugend ist in der Breite friedfertiger als früher"
Die befürchteten Straßenschlachten zwischen linken Gruppierungen und der Polizei blieben am 1. Mai in Berlin aus. Zum zweiten Mal in Folge. Der Politikwissenschaftler Klaus Schroeder erklärt im Interview, woran das liegt.
rbb|24: Herr Schroeder, in den vergangenen beiden Jahren blieb die erwartete Gewalt am 1. Mai aus. Sind die Zeiten von Straßenschlachten am Tag der Arbeit vorbei?
Klaus Schroeder: Vom heutigen Stand her würde ich aber sagen: Ja. Aber so ganz genau kann man das natürlich nicht wissen. In diesem Jahr war es so, dass die gewaltbereiten Demonstranten von zwei Seiten von Krawallen abgehalten wurden. Einerseits durch andere Demonstranten, die meinten, man würde mit Gewalt dem Anliegen der Revolution schaden. Und das Zweite ist die Einsatzstrategie der Polizei. Es deutet alles darauf hin, dass sich die besonnenen Kräfte bei den linken Gruppen durchsetzen werden und dass sie verstanden haben: Die Gesellschaft lässt sich nur verändern, wenn man breite Massen anspricht und eben nicht durch Gewalt.
Wie kommen Sie zu der Erkenntnis, dass die Jugend heute friedfertiger ist als früher?
Durch Gespräche mit Studenten und jungen Menschen.
Hat sich der Protest der linken Gruppierungen in den vergangenen Jahren verändert?
Ja. Der Protest ist mehr in die Breite gegangen. Das sieht man zum Beispiel an der Demonstration im Grunewald, die auch am 1. Mai stattfand. Sie versuchen es zum Beispiel immer wieder mit ironischem Protest. Die heutige Jugend ist in der Breite friedfertiger als früher. Ich glaube, die breite Masse hat erkannt, dass man nicht gewalttätig sein darf, wenn man die Gesellschaft verändern möchte. Es gibt aber immer noch einen harten Kern, die da mit einer Pulle Bier in der Hand herumgrölen. Aber die werden sofort weggeschickt. Da kann man eigentlich nur Lob aussprechen, um es mal auf den Punkt zu bringen.
Lob an wen?
An die Politik und an einen Großteil der Demonstranten, die dafür gesorgt haben, dass es nicht zu Ausschreitungen kommt. Insofern war dieser Abend für diejenigen, die es friedfertig wollten, ein voller Erfolg.
Es gibt aber auch Kritik am Einsatz der Polizei. Die Demonstrierenden beklagen, dass sie am Kottbusser Tor eingekesselt wurden. Wie bewerten Sie diese Situation?
Ja, das war eine kitzlige Situation. Aber da ging es auch um die neue Polizeiwache am Kotti. Da hatte die Polizei Angst, dass etwas passiert, und hat deshalb dichtgemacht. Es ist Gott sei Dank unter den Demonstranten keine Panik ausgebrochen.
Es waren mehr als 6.000 Polizistinnen und Polizisten im Einsatz. Mehr als in den Jahren davor. War diese Präsenz gerechtfertigt?
Im Nachhinein kann man sagen, dass es eine Überreaktion war. Aber das kann man vorher nicht wissen. Die Polizei wollte um jeden Preis verhindern, dass es Krawalle gibt. Deshalb hat sie so reagiert und war so präsent.
Wem hat Berlin diesen 1. Mai ohne größere Krawalle zu verdanken? Der Politik, der Polizei oder den Demonstrierenden?
Allen. Aber vor allem den Demonstranten.
Vielen Dank für das Gespräch.
Anmerkung der Redaktion: Wir haben dieses Interview kurz nach der Veröffentlichung um eine Nachfrage und eine darauf bezogene Antwort ergänzt.
Das Interview führte Yasser Speck
Sendung: rbb24 Abendschau, 02.05.2023, 19:30 Uhr.